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Leise Zeichen
Episode Transcript
Schauerstoff.
Der Grusel-Podcast für schlaflose Nächte.
Leise Zeichen.
Billy Drash saß auf einer der hinteren Kirchenbänke und unterdrückte ein Gähnen.
Vorne auf der Kanzel predigte der Pfarrer seine übliche Sonntagsrede in einem derartmonotonen Sing-Sang, dass der zwölfjährige sich ernsthaft zusammenreißen musste, nicht einfach wegzunicken.
Gerade er durfte sich das nun wirklich nicht erlauben.
Sein Vater Samuel Drash war ein hohes Tier in der Kirchenverwaltung und würde es ihm unter Garantie nicht durchgehen lassen, wenn Billy öffentlich seinen guten Ruf in den Schmutz zog.
Doch so sehr er sich auch bemühte.
Er blieb einfach nicht an den Frommeworten des Pfarrers Hängen, die ohne jeglichen Pathos in dem hohen Kirchenbau wiederhalten.
Vielleicht lag es auch daran, dass etwas anderes mittlerweile.
seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte.
In der Reihe vor ihm saßen ein paar Mitschüler von ihm.
Sie kicherten und tuschelten heftig.
Allen voran Tiffany, die ihm mit ihrem schrillen Gluchsen schon immer gehörig auf den Wecker ging, auch wenn er sich das vielleicht nur einredete, weil er sie ins Geheim mehr mochte, als ihm lieb war.
Als Sohn eines angesehenen Kirchenbediensteten erschien es ihm dennoch als seine Pflicht, bei den prepobertären Albernheiten vor ihm, nicht auch noch mitzumischen.
Manchmal hasste er seine Rolle als Anstands-Wau-Wau.
Und dennoch kam er nicht umhin, Forsch gegen die Lene vor ihm zu treten.
Zischte er grantig, um seine Mitschüler zur Ordnung zu rufen.
Tiffany drehte sich darauf hin zu ihm um und lächelte.
Er errötete und hoffte ihn ständig, sie würde es wegen der schummrigen Kirchenbeleuchtung nicht bemerken.
Tiffany streckte die Hand aus und hielt ihm einen Zettel hin.
Nun klopfte Billy das Herz bis zum Hals.
Er sah nach links zu seinem Vater, der hochkonzentriert und mit geschlossenen Augen dem Gebet des Pfarrers lauschte.
Schnell griff er nach dem Zettel und riss ihn Tiffany förmlich aus der Hand.
Er konnte und wollte nicht mal abwarten, bis er an einem ungestörten Ort war, um ihn zu lesen.
Vielleicht stand ja etwas darin, was er sich heimlich wünschte.
Noch einmal musterte er seinen Vater von der Seite, der immer noch ganz versunken betete.
Belli betrachtete den Zettel.
Es war vielmehr eine Papierserviette, so eine, wie sie in den Spendern in den Waschräumen der Kirche auslagen.
Vorsichtig entfaltete Belli das fragile Material.
Doch anstelle einer Nachricht von Tiffany stand auf dem Zettel etwas ganz anderes, etwas, was er erst viel später verstehen sollte.
was ihm aber schon jetzt einen Schauer über den Rücken jagte.
Leslie Gettys lebt.
Was tust du da?
fauchte sein Vater ihn von der Seite an und riss ihn aus seinen Gedanken.
Nichts gab Belly klein laut zurück und steckte schnell den Zettel in die Hosentasche.
Ihm war so, als wüsste er nun von einem wichtigen Geheimnis, dass er allerdings selbst kaum in seiner Tragweite begriff und deshalb, vorerst, auch mit niemandem teilen konnte.
Einige Wochen später, im Februar twohundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundund die die Schüler Tag ein, Tag aus verpflegte.
Viel Infrastruktur hing an dem Kirchenapparat.
Und genau das machte leidige Abrechnungsaufgaben umso komplizierter.
Sam säufste.
Zeit für etwas Nervennahrung.
Ohne den Blick von dem Stapel Rechnungen vor sich zu lösen, tastete er nach der oberen Schublade seines Rollkontainers unter dem Schreibtisch.
Hier bewahrte er gewohnheitsgemäß eine Schüssel mit Knabbereien auf, die ihm immer dann zu Hilfe kamen, wenn sein Gehirn mal wieder Überstunden leisten musste.
Seine tastenden Finger fanden sofort die kleine Kunststoffschale.
Doch zu seiner Überraschung griffen sie direkt ins Leere.
Eritiert zog Sam die Schublade vollends heraus und starte auf die leere Schüssel, in der lediglich ein paar Krümel des letzten Mix aus Nüssen und Trockenfrüchten kleben geblieben waren.
Ärger zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
Er war einhundertprozentig sicher gewesen, dass er die Schüssel erst gestern wieder aufgefüllt hatte.
Und nun hatte sie offenbar jemand von seinen Kollegen nicht nur leer gefuttert, sondern war sogar so weit gegangen, seine persönlichen Schubladen dafür zu öffnen.
Dabei hatte er die Schüssel ja extra in den Rollschrank gestellt, um zu vermeiden, dass Mitarbeiter, die an seinem Büro vorbeikamen, sich einfach so daran bedienten.
Keine Frage, dass.
sie würde auf jeden Fall ein Nachspiel haben.
Gereizt erhob sich der dreißigjährige aus seinem Büro Stuhl und ging mit der leeren Plastikschüssel in Richtung der Gemeinschaftsküche.
Dort fand er den Koch vor, der gerade an der Arbeitsplatte stand und etwas Gemüse für das kommende Mittagessen der Schüler schnibbelte.
Die Männer grüsten sich knapp und Sam steuerte direkt auf den großen Vorratsschrank zu, von dem er wusste, dass er normalerweise randvoll mit allerlei Snacks war.
Doch ein weiteres Mal wurde der Verwaltungsangestellte beim Öffnen des Schrank enttäuscht.
Denn nicht nur fehlte eine große Vorratspackung von dem Nussmix, mit dem Sam seine Schale hatte auffüllen wollen.
Er sah auch auf einen Blick, dass die Auswahl an Naschereien, Keksen und Crackern sich seit seinem letzten Besuch deutlich dezimiert hatte.
Der Schrank war beinahe leer.
– Sag mal, sprach er dem Koch nun an, der gerade sorgsam ein paar Karottenschälte.
Kann es sein, dass hier irgendjemand essen klaut?
In meinem Büro hat jemand definitiv meine Nüsse weggefuttert und der Vorratsschrank hier sieht geradezu geplündert aus.
Der Koch legte sein Schellmesser weg und sah Sam erleichtert an.
Ich bin froh, dass es dir offenbar auch aufgefallen ist.
Das heißt, ich bin nicht verrückt.
Hier, schau dir das an.
Er machte ein paar lange Schritte zu dem großen, doppeltürigen Kühlschrank am anderen Ende der Küche.
Sam stellte verwundert fest, dass der Koch ihn offenbar mit einem Vorhängeschloss gesichert hatte.
Dieser kramte in seiner Hosentasche nun nach dem Schlüssel und Schloss auf.
Nachdem er die Kette entfernt und eine der Flügeltüren geöffnet hatte, zeigte er auf eine bestimmte Stelle im obersten Kühlfach und sagte Bedeutungsschwanger, da.
Sem verstand einen Moment lang nicht und starte den Koch erwartungsvoll an.
Der fuhr fort.
Da lag gestern noch ein riesiges Stück Schinken.
Woher ich das weiß?
weil ich es selbst hineingelegt hatte.
Jetzt ist es weg.
Und weißt du, was das Verrückte daran ist?
Auch diese Frage beantwortete der Koch lieber selbst.
Ich habe auch dieses Vorhängenschloss gekauft, damit genau das nicht passiert.
Denn das hier ist bei Weitem nicht das erste Mal das Lebensmittel verschwinden.
Ach nein, hackt es Semlun überrascht ein.
Der Koch fuhr fort.
Schon seit einigen Monaten verschwindet hier ständig irgendwelches Essen.
Am Anfang waren es noch sehr geringe Mengen, sodass ich mir noch sagte, dass da sicherlich nur meine Einbildung.
Aber mittlerweile lässt sich das wohl kaum noch ignorieren.
Wenn das so weitergeht, kann ich den Kindern bald nichts mehr zu Essen auftischen.
Der Koch hatte sich regelrecht in Rage geredet, so sehr war er über den Lebensmitteldiebstahl an seinem Arbeitsplatz verärgert.
Aber Sim verstand ihn.
Während er so zuhörte, kam der Buchhalter und Prokurist in ihm durch.
der Kosten sparen und wirtschaftlich agieren wollte.
Die letzten Jahre waren auch für die Kirche in ökonomischer Hinsicht nicht gerade golden gewesen.
Sie konnten es sich schlichtweg nicht erlauben, doppelt und dreifach für gestuhlende Lebensmittel aufzukommen.
Mal ganz abgesehen von dem moralischen und öffentlichen Schaden, den das Ansehen des Gotteshauses dadurch erlitt, sollte der Sachverhalt publik werden.
Wer war schon so gewissenlos und bestah eine Kirche?
Für den Moment blieb ihn nur eine Sache zu tun.
Sie würden das Vorhängeschloss am Kühlschrank noch einmal tauschen und einen geheimen Verwahrungsort für den Schlüssel ausmachen.
Das brachte Sam zwar seinen heiß geliebten Nussmix nicht zurück, aber zumindest wäre bis auf weiteres die Schulspeisung wieder gesichert.
Gesagt, getan.
Dass Sam in den folgenden Tagen nichts von dem Koch hörte und dieser offenbar wie gewohnt seine Arbeit nachgehen konnte, schien das Problem vorerst gelöst.
Doch schon bald darauf, am dritten März, twohundertundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundund.
Sie hatten extra das Schloss getauscht.
Abgesehen von dem Koch und ihm selbst wussten nur noch zwei weitere, in Sam's Augen sehr loyale Mitarbeiter, wo der neue Schlüssel aufbewahrt wurde.
Sie hatten sich sorgsam nach einem guten Versteck umgesehen.
Wie konnte das sein?
Doch der Koch war noch nicht fertig mit seiner Beschwerde.
Denn neben den verschwundenen Lebensmitteln schien sich neuerdings jemand auch einen Spaß daraus zu machen, ihn persönlich zu ärgern.
So war es bereits einige Male vorgekommen, dass seine Arbeitsschuhe und seine Schürze nicht an dem gewohnten Platz waren, sondern dass jemand sie irgendwo in der Küche versteckte und der Koch bei Schicht beginnen, erst mal mühsam danach suchen musste, bevor er sich an die Arbeit machen konnte.
Sam verstand, dass das sicherlich lästig für den Koch sein musste.
Tatdessen bericht allerdings vorerst, als das Werk einiger gelangweilter Grundschüler ab.
Die würden schon wieder damit aufhören.
Oder man erwischte sie früher oder später.
Die verschwundenen Lebensmittel waren jedoch eine andere Sache.
Er würde das Kirchenoberhaupt, den Pfarrer, informieren müssen.
Dazu brauchte es einen schriftlichen Bericht.
Entschlossen stapfte Sam über den Flur zurück zu seinem Büro.
Doch etwas ließ ihn beim Betreten des kleinen Raumes unmittelbar auf der Schwelle erstanen.
Da lag etwas auf seinem Schreibtisch.
Sam trat näher und erkannte schnell, um was es sich handelte.
Ein Papierhandtuch.
Eines von den Tüchern, mit denen die Reinigungskräfte die Spender der Gebäudetoletten ausstatteten.
Es war noch unbenutzt und einigermaßen faltenfrei.
Allerdings hatte jemand etwas darauf geschrieben.
Die Schrift war farig und kackelig.
Und der Stift war mehrmals auf dem aufgerauten Papier hängen geblieben, so als hätte jemand die Notiz in großer Eile verfasst.
Es standen nur zwei kurze Sätze auf der Serviette.
Helft mir!
Ich bin auf dem Dachboden.
Der Kirchenangestellte legte die Notiz nieder und stützte den Kopf in die Hände.
Sein Kiefer meinte, weil zu viele Gedanken gleichzeitig auf ihn einprasselten.
Werbete.
schön war dieser Witzbold, der ihm solche Nachrichten auf dem Schreibtisch hinterließ.
Vielleicht derselbe, der auch die Vorräte aus der Küche gestohlen hatte?
Eine Gruppe von Schülern, die hier ihr Unwesentrieb und alberne Streicher aushäckte?
um den Mitarbeitern das Leben schwer zu machen, doch während Sam sich immer mehr an seinem Ärger aufspulte, funkte ein anderer Gedanke dazwischen, was, wenn zumindest die Notiz, doch kein schlechter Scherz war, so unwahrscheinlich ihm der Gedanke auch vorkam, was, wenn tatsächlich jemand auf dem Dachboden in Not war.
Nun, das ließ sich zumindest leicht überprüfen.
Wieder erhob sich der Achtund Dreißigjährige von seinem Schreibtisch, nahm seinen Schlüsselbund, und ging mit Forschenschritten zum Treppenhaus, wo er die Stufen bis in den dritten Stock des Gebäudes nach oben stieg.
Die methodistische Kirche von Memphis war kein klassischer Sakraler Bau mit hohen Decken aus Rundbögen, wie man es typischerweise aus Europa kennt.
Das Gebäude war deutlich moderner und mit einem ganz gewöhnlichen Dachstuhl ausgestattet.
Sam holte den Schlüssel mit der Aufschrift Boden hervor, steckte ihn ins Schloss und sperrte die Tür auf.
Mit einem unangenehmen Quetschen schleifte die alte Metalltür über den Beton.
Sam starte einen Moment lang in die Dunkelheit, wo Feuer nach dem Lichtschalter tastete.
Als schließlich die staubigen Neonröhren an der Decke flackernd und so rund ansprang, sah er vor sich absolut nichts.
Der Dachboden war leer.
Hier verbargen sich nicht mal das übliche Sammelsurium an aussortierten Möbeln oder alten Büchern.
Abgesehen von einem Haufen Dämmmaterial, das noch empackt werden musste, Gab es hier oben wirklich nichts zu sehen.
Bei einer Erleichter hat schloss der Sachbearbeiter wieder die Dachbodentür.
Dieser Zettel war absoluter Humbug gewesen.
Gleichzeitig war er in der Angelegenheit noch keine Schritt weiterbekommen.
Doch da kam ihm eine Idee.
Es gab dadurch auch noch jemanden, den er fragen konnte, und der ihm bei seiner Suche nach den unbekannten Gaunern sicherlich behilflich sein würde.
Geband verfolgte Billy eine Mittwoch-Nachmittags-Quiz-Show im Fernsehen, als er plötzlich hörte, wie jemand die Haustür aufschloss.
Mist, es war bereits sechs Uhr dreißig, und sein Vater war mal wieder überpünktlich zu Hause.
Schnell griff er nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ab.
Er wusste genau, dass er jetzt eigentlich über seinen Hausaufgaben sitzen sollte.
Um seinen alten Herrn nicht noch mehr zu verärgern, eilte er direkt in die Diele, um ihn zu begrüßen.
Sam Drash schien bereits ohnehin ein ernstes Thema auf der Agenda zu haben.
Billy, mein Junge, begrüßte er den zwölfjährigen und ließ sich aus dem Mantel helfen.
Wir müssen reden.
Oh-oh, dachte der Schüler.
Habe ich vielleicht wieder irgendetwas ausgefressen?
Doch die ernste Mine des Vaters schien sich nicht gegen ihn persönlich zu richten, als die beiden einander zugewandt im Wohnzimmer Platz nahmen.
Sam Drash erkannte die Nervosität seines Sohnes und lächelte.
Billy, sprach ihn unfreundlich.
Ich mache mir Sorgen.
In der Küche unserer Gemeinde verschwinden ständig Lebensmittel.
Ich befürchte, dass ein paar Schüler sich einen Streich erlauben und heimlich die Vorräte plündern.
Du kennst doch die üblichen Verdächtigen an der Schule, die so etwas törichtes tun würden.
Weißt du etwas darüber?
Billy blickte irritiert auf.
Dann legte er die Stirn in Falten und schüttelte nachdrücklich den Kopf.
Davon hatte er wirklich noch nie etwas gehört.
»Nun gut« legte der Vater nun nach.
»Du weißt also nichts.
Aber vielleicht kannst du mir hierzu etwas sagen.
Sam Drash fasste in die Brustasche seines akkurat weißen und faltenfreien Hemdes und zog die Papierservietter hervor, welche er am Vormittag auf seinem Schreibtisch gefunden hatte.
Er faltete sie vorsichtig auseinander und legte die aufgeklappte Notiz so auf den Couch-Tisch, das Billy sie lesen konnte.
Dessen Augen weiteten sich sofort bei dem Anblick des Schriftstücks, was auch Sam Drash nicht entging.
Sagt ihr diese Notiz etwas, hakte der Vater nun nach.
Billy starte noch immer wie gebannt auf das Papiertuch.
Einige Sekunden verharten sie so in Schweigen, dann sah der zwölfjährige seinen Vater an.
Doch anstatt etwas zu sagen, nickte er nur entschlossen und griff in seine eigene Hosentasche.
Er zog eine identische Papierservierte hervor.
die allerdings schon deutlich zacknitterter war als das Exemplar des Vaters.
Billy legte seine Serviette neben die von Sam.
Leslie Gettys lebt.
Und, helft mir, ich bin auf dem Dachboden, stand auf den beiden Papiertüchern in jeweils derselben Schrift.
Vater und Sohn sahen sich entgeistert an.
Leslie Gettys war ein fünftzenjähriges Mädchen, das seit dem achtzehnten November, in Memphis, Tennessee, vermisst wurde.
Offenbar war ein unbekannter Täter in jener Nacht in ihr Wohnhaus eingedrungen und hatte die Jugendliche entführt.
Da Leslie aus gut betuchten Verhältnissen kam und die Familie sehr wohlhabend war, behandelte die Polizei den Fall von vornherein als Entführung und glaubte nicht daran, dass das Mädchen freiwillig weggelaufen sein konnte.
Auch wenn man keine Einbruch oder Kampfspuren im Haus gefunden hatte.
Da die fünfzehnjährige mittlerweile allerdings seit bald vier Monaten spurlos verschwunden war und seit ihrem Verschwinden nie eine Lösegeldforderung bei ihrer Familie eingegangen war, gingen die Ermittler inzwischen leider davon aus, dass Leslie nicht mehr am Leben sein konnte.
Die seltsamen Notizen, die in der vereinten methodistischen Kirche von Memphis aufgetaucht waren, warfen nun ein anderes Licht auf den Fall und schürten die Hoffnung, dass man das Mädchen vielleicht doch noch lebendig wiederfinden würde.
Auch wenn die von Sam Dresch nun herbeigerufene Polizei diese Hoffnung erst mal wieder zunichte machte.
Man durchkämpfte das gesamte Gebäude, stellte vom Keller bis natürlich zum Dachboden alles auf den Kopf, drehte auf dem Grundstück jeden Stein um und fand abermals nichts.
Keinerlei Hinweis, dass Leslie Gettys sich auf dem Gelände irgendwie aufgehalten hatte.
Abgesehen von den mysteriösen Notizen, die die Polizei als makaberen Schülerstreich abtat.
Doch Sam Drash und mittlerweile auch ein paar weitere Kirchen Mitarbeiter wollten sich damit nicht zufrieden geben.
Also heckten sie einen ganz eigenen Plan aus.
In der Nacht zum achzehnten März, neunzehundertzweiundachtzig, sollten einige Mitarbeiter nicht wie üblich nach Hause gehen, sondern in wechselnden Schichten das Gebäude patrouillieren.
Nur so würden sie endlich verstehen, was in diesen heiligen Hallen nun schon seit Monaten mysteriöserweise vor sich ging.
Vier Mitarbeiter einschließlich Sam waren in jener Nacht in der Kirche geblieben und hielten sich versteckt.
Und tatsächlich mussten sie nicht allzu lange warten, bis plötzlich unerwartete Geräusche und Bewegungen zu vernehmen waren.
Im Erdgeschoss bemerkte gegen dreiundzwanzig Uhr einer der Mitarbeiter, wie auf einmal das Licht in der Küche angehen.
Volltreffer, dachte er, und schlich langsam den dunklen Flur entlang.
Und als er um die Ecke bog, traute er seinen Augen kaum.
Dort stand ein jugendliches Mädchen mit lang verfilzten Haaren, einem verquollenen Gesicht und schmutziger, zerschlissener Kleidung.
Neben ihr ein Mann mittleren Alters, ebenfalls mit verwahrlustem Erscheinungsbild und einem unglaubigen Gesichtsausdruck.
Das Mädchen stürzte sofort auf den überforderten Mitarbeiter zu und fiel ihm schluchzend in die Arme.
Es war Leslie Gattes.
Sie lebte.
Sein Name war Ernest Earl Stubblefield.
Er war forty-Jahre alt, allein stehend, und hatte offenbar schon länger einen Hang dazu gehabt, sich unerlaubterweise in Kirchen und Schulgebäuden versteckt zu halten.
Wahrscheinlich war das auch der Grund gewesen, warum sein Versteck in der vereinten methodistischen Kirche von Memphis so lange unentdeckt geblieben war.
Denn Leslie, die er in der Nacht des achtzehnten Novembers, neunzehnhundertundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundundund.
Er war mit ihr in die Kirche geflüchtet und hatte sie fortan auf dem Dachboden gefangen erhalten.
Allerdings nicht dort, wo Sam Drash und später auch die Polizeibeamten nachgesehen hatten.
Das wirkliche Versteck von dem Täter und seinem Entführungsopfer fand sich stattdessen in einem sogenannten Crawl Space, also einem Zwischenboden zwischen Obergeschoss und Dachboden.
Solche Zwischengeschosse dienten in erster Linie als Stauraum.
und waren für gewöhnlich nicht höher als sechszig Zentimeter.
Stubblefield hatte Leslie hier ganz einhundert neunzehn Tage festgehalten.
Nur in der Nacht war es ihr erlaubt gewesen, mit ihm gemeinsam das Versteck zu verlassen und in der Küche auf Nahrungssuche zu gehen.
Dabei nahm Leslie zuletzt deutlich mehr Lebensmittel mit, als sie verbrauchen konnten, um die Mitarbeiter der Kirche darauf aufmerksam zu machen, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Als das nicht half, riskierte sie einige Male ihr Leben, um die Hilferufe auf die Papierservietten zu schreiben und in dem Gebäude zu deponieren, wenn Stubblefield gerade nicht hin sah.
Der Täter hatte ihr einige Male versprochen.
Er hätte eine Lösegeldforderung an ihre Eltern geschickt, nach deren Zahlung er sie wieder freilassen würde.
Doch mittlerweile glaubte die Fünfzehnjährige nicht mehr daran.
Stubblefield hatte offenbar vor, sie für immer gefangen zu halten oder irgendwann einfach zu beseitigen.
Doch Leslie war klug, und sie hatte einen ungeheuren Überlebenswellen, was schließlich zur Entdeckung der beiden führte.
Zur Erleichterung aller hatte Stubble viel sich nicht an dem Mädchen vergangen, und doch hatte er noch umso mehr Abscheuligkeiten im Schild geführt, wovon man ihm zum Glück das Handwerk legte.
Als man ihn und Leslie in der Kirche aufgriff, gelang ihm zunächst die Flucht.
Doch drei Wochen später und nach intensiver Fahndung fand man den einundvierzigjährigen, in dem Treppenholraum einer anderen Kirche, unter welchem er sich versteckt gehalten hatte.
Zu seinen überschaubaren persönlichen Sachen zählte ein Notizbuch.
Darin hatte er die Namen und Adressen von etwa viertausend weiteren Mädchen festgehalten, die zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren alt waren.
In einigen Fällen besaß er sogar deren Haustürstüssel.
Ernest Doublefield bekam dreißig Jahre im Gefängnis, ohne Aussicht auf Bewährung.
Seine Ex-Frau sagte einmal aus, dass Doublefield das Mädchen vermutlich als eine Art Kompensation für die Entfremdung von seiner eigenen Tochter, die ähnlich alt war wie Leslie, entführt hatte.
Nach der Scheidung war der Ex-Frau das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden, und Doublefield hatte bereits erfolglos versucht, seine eigene Tochter zu entführen.
Und Leslie Gettys hat sie viele Jahre gebraucht, um mittels Therapien ihrem Trauma zu entwachsen, Und das, was ihr peiniger ihr angetan hatte, hinter sich zu lassen?
Natürlich.
Und sie hatte es schlussendlich geschafft.
Aber sie hatte schon damals, mit gerade mal fünfzehn Jahren, eine wichtige Entscheidung für sich getroffen.
In der Auseinandersetzung mit dem Täter hatte sie sich nie ihre Angst anmerken lassen.
Sie war ihm immer taf gegenübergetreten.
Denn wer sich nach außen mutig gibt, ist kein einfaches Opfer mehr.
Diesen Pfad hat sie nie mehr verlassen.
Und so ist Leslie in ihrem späteren Leben Anwältin geworden.
Sie hat sich auch Familienrecht spezialisiert und engagiert sich vor allem für Kinder aus zerrüteten Familien, in denen erbitterte Sorgerechtskämpfe ausgefochten werden.
Eine Mission, die sicherlich auch stabil fehlt und seiner familiären Vergangenheit zuträglich gewesen wäre.
Und die Leslie vielleicht dabei geholfen hat, zu verstehen, warum ihr im Führer ihr einst so etwas angetan hatte, nicht um ihn von seiner lebenslangen Schuld zu entbinden, sondern um sich selbst ein für alle Mal aus ihrer eigenen Vergangenheit zu befreien und nicht länger Opfer sein zu müssen.