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Ernest Shackleton - Führungskunst in Extremsituationen

June 16
21 mins

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Episode Description

Sir Ernest Shackleton überlebt mit seiner Crew 635 Tage im antarktischen Eis - ohne Schiff, ohne Aussicht auf Rettung. Er bewahrt eine positive Haltung, hält die Moral hoch, inspiriert durch Vorbild und trifft kluge Entscheidungen. Eine Lektion in Krisenführung. Von Lavina Stauber (BR 2025)

Credits

Autorin dieser Folge: Lavina Stauber 
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Julia Fischer,
Technik: Heiko Hinrichs
Redaktion: Yvonne Maier

Im Interview:


• Anja Blacha, deutsche Ausdauer- und Extremsportlerin und erste Frau, die in einer Soloaktion ohne Unterstützung zum Südpol lief

• Stephanie Capparell, Wirtschaftsjournalistin und Co-Autorin des Führungskräfte-Ratgebers „Shackleton’s Way“

• Kristina Hillemann, Spezialist für Polarreisen und Gründerin sowie Podcasterin von Eisexpeditionen.de

• Prof. Dr. Martin Högl – Institutsleiter für Leadership and Organization der LMU München


Linktipps:

Die Meldung zur Bergung der Endurance 100 Jahre später:

IQ - "Endurance"-Wrack, Russisches Gas, Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke, Produktionscontainer für Impfstoffe 


Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

 ZITATOR:

Den ganzen Tag über beobachteten wir, wie die Eisschollen bedrohlich näher rückten. [...] Die dickeren Schollen und Eisrücken schoben sich gegen das Schiff, die Endurance ächzte und zitterte unter der gewaltigen Belastung. Ihr Heck wurde gegen das Eis gepresst [...] und die Planken begannen sich zu lösen. Das Eis bewegte sich nicht nur nach vorne, sondern auch seitlich [...] schon bald begann das Schiff stark zu lecken. 

SPRECHERIN

Es ist der 24. Oktober im Jahr 1915. Als Sir Ernest Shackleton diese Zeilen in seinem Tagebuch festhält, sitzt er zusammen mit seiner 27-köpfigen Mannschaft schon neun Monate im Packeis der Antarktis fest. Ihr Expeditionsschiff, die Endurance, war im vorangegangenen Januar im Eis festgefroren. Etliche Versuche, ihr einen Weg durch die Eisschollen zu schlagen, waren gescheitert. Zuvor, noch im Januar 1915, war der beste Plan für die Männer: in ihrem Schiff zu überwintern und darauf zu hoffen, dass das Eis im antarktischen Sommer ihren Weg wieder freigeben würde. 

Atmo: Eis bersten

ZITATOR:

Dann, am Sonntag, den 24. Oktober, kam das, was für die Endurance der Anfang vom Ende war. 

SPRECHERIN

Ende Oktober, also mit Beginn des Sommers am südlichsten Ende der Erde, ändert sich die Situation und damit auch der Plan schlagartig. Der zu dem Zeitpunkt 41 Jahre alte Sir Ernest Shackleton hat als Expeditionsführer die Verantwortung für die „British Imperial Trans-Antarctic Expedition“, so der offizielle Titel. Er möchte als Erster den antarktischen Kontinent zu Fuß von Küste zu Küste durchqueren – und 27 Männer mit unterschiedlichsten Erfahrungen haben sich ihm angeschlossen.

Musik: Cold journey 0‘23

Drei Tage nach dem Leck im Oktober 1915 beschließt er, die Endurance aufzugeben. Die Mannschaft soll sich über die Eisschollen des zugefrorenen Weddelmeers im Südatlantik retten. Ab diesem Moment geht es nicht mehr um das Gelingen einer Transantarktis-Mission, sondern ums Überleben. 

O-Ton -  Anja Blacha  

[00:02:42] Denn man ist in einer Umgebung, die unerbittlich ist und wo man schnell Erfrierungen erleiden kann, wo man natürlich auch eine Fehlernährung oder Mangelernährung früher noch mehr als heute haben kann, wo der Körper eigentlich konstant abbaut, weil er Tag für Tag für Tag gefordert ist und wenig Möglichkeit hat zur Regeneration und um wieder was aufzubauen, was er vielleicht über die letzten Tage und Wochen verloren hat 

SPRECHERIN

In der Antarktis zu überleben, bedeutet – heute wie zu Shackletons Zeit - nicht nur Resilienz gegen Naturgewalten zu beweisen. Es bedeutet auch, gegen die Isolation anzukommen. Das hat auch die deutsche Extremsportlerin Anja Blacha erlebt. Sie war mehrmals in der Antarktis auf Expedition und stellte 2020 einen Rekord auf: Sie hat als erste Frau allein und ohne Unterstützung den geografischen Südpol erreicht. 

O-Ton -  Anja Blacha  

[00:01:30] Auf Polarexpedition zu sein, ist ein unglaublicher Test von Resilienz. Denn man ist in einer Umgebung, wo es eine unglaubliche Reizarmut gibt. Man hat fast nichts anderes um sich als das weiße Eis und den Schnee und manchmal sieht man nicht mal den Horizont oder die Sonne am Himmel, weil alles im Whiteout versinken kann. [00:02:07] ... [00:02:26] Diese Reizarmut und diese isolierte Abgeschiedenheit, die macht viel mit unserem Kopf, mit unserer mentalen Leistungsfähigkeit. [00:02:38]

Atmo: Windheulen

SPRECHERIN

In dem Moment, in dem die Mannschaft ihr Schiff dem Eis überlassen muss, ist die Expedition gescheitert. Ohne Aussicht auf Rettung strandet die Gruppe auf einer Eisscholle.

Musik:  Ice investigator 0‘14

Was Ernest Shackleton aber ab diesem Moment stets mit sich tragen wird, ist überraschenderweise: Hoffnung!

O-Ton Stephanie Capparell 

[00:09:05] Once he would have lost their hopefulness … [00:09:39]

OV

Wenn er die Hoffnung verloren hätte – und das bei so vielen verzweifelten Menschen – dann wäre Chaos ausgebrochen. Wir wissen [...] weil wir so viele andere Geschichten von Expeditionen kennen, die in Selbstmord, Mord und sogar Kannibalismus endeten, wenn etwas schiefgeht und du so weit weg von allem bist, was du als hilfreich erachten kannst, dann sinkt man wirklich schnell, tief und sehr weit nach unten. 

Musik:  Melting beauty 0‘20

SPRECHERIN

Und genau hier, am Tiefpunkt der Expedition, beginnt eine neue Geschichte: 

Die Geschichte von Ernest Shackleton als großem Krisenmanager, die Geschichte einer waghalsigen Rettungsmission.

O-Ton Stephanie Capparell

[00:00:41] I was impressed by the sheer enormity of ... [00:01:01]

OV

Ich war beeindruckt von der schieren Größe von Shackletons Leistung. Er brachte 27 Männer zurück in die Zivilisation, nachdem sie auf treibenden Eisschollen in der Nähe der Antarktis gestrandet waren [...]. Ich wollte unbedingt wissen, wie er das geschafft hat. 

SPRECHERIN

Stephanie Capparell schreibt als Journalistin unter anderem für das Wall Street Journal und beschäftigt sich mit Führungs- und Persönlichkeitsstrategien. Über Shackletons Führungsstrategie sei an dieser Stelle schon so viel vorweggenommen: Als Ernest Shackleton die Endurance verlässt, setzt er sich ein neues Ziel. Er will seine Männer lebend nach Hause bringen. 

O-Ton Stephanie Capparell

[00:26:15] Not only that they survived, but they survived with … [00:26:31]

OV

Und sie haben nicht nur überlebt — sie kamen mit erstaunlich wenigen Verletzungen davon. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man: Dahinter steckte eine durchdachte Strategie. ... [00:01:01] Da ich seit Jahrzehnten als Wirtschaftsjournalistin arbeite, bin ich ständig auf der Suche nach Vorbildern in Sachen Führung. Shackleton schien mir da das perfekte Beispiel zu sein. [00:01:22]

SPRECHERIN

Stephanie Capparell ist beeindruckt von dem unerschütterlichen Führungswillen dieses Mannes, der seine Crew lebend nach Hause bringt. Gemeinsam mit Margot Morrell veröffentlicht sie ein Managementhandbuch, das den Führungsstil Shackletons zum Thema hat.

O-Ton Stephanie Capparell

[00:05:54] I would put at the top of what he did was to keep … [00:06:26]

OV

Das Wichtigste, was er getan hat, war, die Moral, den Kampfgeist, aufrechtzuerhalten und die Menschen hoffnungsvoll zu stimmen. [...]

SPRECHERIN

In ihrem Handbuch haben Stephanie Capparell und Margot Morrell vier Führungspraktiken aus Shackletons Handeln abgeleitet. Die erste ist:  "keeping up the morale“. Das heißt: die Stimmung aufrechtzuerhalten und den Zusammenhalt zu stärken. 

Musik:  Perpetual motion machine (d) 0‘33

Shackleton gelingt das demnach, indem er in der Ausnahmesituation an erster Stelle für Strukturen sorgt und Routinen etabliert, die das Gefühl von Normalität bewahren. In den eisigen Weiten der Antarktis schafft er nach Ansicht der beiden Autorinnen darüber hinaus immer wieder Momente der Gemeinschaft: Es wird gesungen, gefeiert, gelacht – so oft es die Lage erlaubt.

O-Ton Stephanie Capparell

 [00:13:43] It kept them feeling a sense of happiness … [00:14:20]

OV

Es ließ sie nicht nur glücklich fühlen, sondern auch hoffnungsvoll. Er sorgte stets dafür, dass die Stimmung lebendig blieb: durch Rätsel, Gedichte, gemeinsames Singen, Leute, die Musik machten. Darin war er wirklich gut.

O-Ton Anja Blacha

[00:26:20] In Extremsituationen intensivieren sich all unsere Eigenschaften. [...] Und dort, ohne Möglichkeit rauszukommen aus dieser Dynamik, damit klarzukommen und die Emotionen trotzdem wieder zu regulieren [...], dass aus dieser Stress - und Drucksituation nicht ein zersplittertes Team wird [...] sondern eines, was dadurch zusammenwächst, das ist die hohe Kunst und das ist das, was Shackleton zum Erfolg geführt hat. [00:27:31]

SPRECHERIN

Ihm gelingt es so, seine Crew zusammenzuhalten. Stephanie Capparell und Margot Morrell machen das in ihrer Analyse auch daran fest, dass er es schafft, eine positive Einstellung zu bewahren - „Maintaining a positive attitude“ nennen sie das. Der zweite wichtige Aspekt in seiner Führung.

Musik:  Living crystalls 0‘31

Atmo: Schritte, Dinge werden im Schnee vergraben 

ZITATOR:

Die Reise könnte lang werden, und es bestand die Möglichkeit, den Winter in improvisierten Unterkünften an einer unwirtlichen Küste am anderen Ende zu verbringen. Ein Mann braucht unter solchen Bedingungen etwas, das seine Gedanken beschäftigt — ein greifbares Andenken an sein Zuhause. So wurden Goldmünzen weggeworfen, aber Fotos behalten. 

SPRECHERIN

Ernest Shackleton ist sich der Kraft einer positiven Stimmung bewusst und er macht es sich zur Aufgabe, für diese unter seinen Mannschaftskameraden zu sorgen. Er weiß: Eine Crew, die den Lebenswillen verliert, ist verloren, sagt Stephanie Capparell. Außerdem habe er allen voran an das Wohlbefinden jedes Einzelnen gedacht. Während der monatelangen Odyssee stellt er sich nicht nur denselben Strapazen wie seine Männer –  Schlafmangel, Hunger, Kälte. Er stellt die Bedürfnisse des Teams sogar über seine eigenen. 

O-Ton Stephanie Capparell

[00:15:53] We know that there are many instances … [00:16:53]

OV

Wir wissen, dass es viele Situationen gab, in denen Shackleton die anderen schlafen ließ, während er selbst wach blieb, oder in denen er seinen Anteil am Essen abgab, wenn es ihm so schien, als würden die anderen nicht genug bekommen. 

SPRECHERIN

Und das macht die dritte Führungspraktik des „Shackleton Ways“ aus:

O-Ton Stephanie Capparell

OV

[00:04:51] He had to lead by example, he couldn't drive … [00:05:05]

Er musste mit gutem Beispiel vorangehen – er konnte die Menschen nicht einfach antreiben, das zu tun, was er tat. Es musste Führung durch Vorbild sein. [...] [00:07:25] – in so einer Situation muss man die Menschen inspirieren. Man kann nicht einfach diktieren, was passieren soll [00:07:39] 

SPRECHERIN 

Stephanie Capparell nennt das: Führung durch Vorbild, also „leading by example“ und das habe ihn glaubwürdig gemacht. Seine Crew vertraut ihm, weil sie sieht, dass er nicht über, sondern auf derselben Ebene wie sie steht und die Verantwortung und Führung mit ihnen teilt. 

Atmo Möwen, Deck schrubben

Als Ernest Shackleton Jahre zuvor selbst auf den ersten Schiffen anheuerte, schrubbte auch er die Decks, polierte das Messing und lud die Fracht, bis zur Erschöpfung. 

O-Ton Stephanie Capparell

 [00:10:33] Shackleton knew the kind of leadership he hated ... [00:11:20]

OV

Shackleton wusste genau, welche Art von Führung er hasste – nämlich diese starren, täglichen Routinen, die viele Anführer wohl aus ihren militärischen Erfahrungen übernommen hatten. Ein besonders absurdes Beispiel erlebte er unter Robert Scott: Scott ließ ihn das Deck schrubben, weil das eben zur Arbeit auf einem Schiff gehört – nur war das in der Antarktis unsinnig, denn dort schrubbte man im Grunde nur Eis. Shackleton hielt das für verrückt. Und je verzweifelter die Lage wurde, etwa als die Vorräte knapp wurden, desto mehr war Shackleton überzeugt, dass es Zeit war, mit dem hierarchischen, autoritären Führungsstil aufzuhören und die ganze Struktur zu ebnen.

SPRECHERIN

Ernest Shackleton wusste also, aus eigener Erfahrung, was ein Führungsstil bei der Mannschaft auslösen konnte, wenn dieser eben nicht den Bedingungen angepasst wurde. Und die vierte Shackletonsche Führungspraktik, die Stephanie Capparell und Margot Morrell herausgearbeitet haben, setzt genau da an:

O-Ton Stephanie Capparell

 [00:06:45] Communicating effectively, not only did he make ... [00:07:25]

OV

Was die effektive Kommunikation betrifft, so sorgte er nicht nur dafür, dass jeder das Gefühl hatte, er hätte eine Lösung und würde sie sicher nach Hause bringen, sondern er stellte auch sicher, dass die Kommunikation immer zweiseitig war. Und das ist, glaube ich, das Erste, was in einer Krisensituation als Führungskraft auseinanderfällt: Man hört auf, auf die Menschen zu hören und beginnt, einfach zu handeln – und zwar schnell, nur um irgendwie aus der Situation herauszukommen. Shackleton jedoch hielt immer die Tür für Ratschläge offen.

Musik: Z8033060110 Slow degeneration 0‘36

Atmo: Gehen auf Schnee, Sturm

SPRECHERIN

Als Ernest Shackleton und seine Männer im Oktober 1915 das leckende Schiff verlassen, kommen sie erstmal nicht weit. Das Packeis erschwert ihr Vorankommen, sie müssen ein Lager aufschlagen. Kristina Hillemann ist Spezialistin für Polarreisen und Gründerin von Eisexpeditionen.de, ein auf Expeditionsreisen in polare Regionen spezialisiertes Unternehmen. Die Verhältnisse im Packeis veranschaulicht sie so:

O-Ton Kristina Hillemann  DJI_07_20250317_135858

[00:14:57] Man muss sich die Antarktis vorstellen, wie so ein ständiges Mosaik aus driftenden Schollen quasi. Die dann durch Wind und durch die Meeresströmung auch immer mal wieder unberechenbar verschoben und gegeneinander gedrückt werden. [00:15:10]

Atmo: Sturm/kehren

SPRECHERIN

Nach etwa drei Monaten müssen Shackleton und seine Männer ihr erstes Lager verlassen und weiterziehen. Das Eis, das ihr Lager trägt, ist nicht mehr dick genug. Im Februar 1916 schlagen sie also ein zweites Lager auf, auf einer stabileren Scholle. 

O-Ton Kristina Hillemann  DJI_07_20250317_142948

[00:28:05] Wenn Sie wissen, da sind mehrere tausend Meter unter ihnen nur eiskaltes Wasser, nichts, das ist ein irres Gefühl und heute können wir es natürlich messen, heute haben wir ganz andere Möglichkeiten zu gucken, wie dick ist das Eis, hält das [...] aber damals gab es das alles nicht, das heißt, sie konnten wirklich nur aus einem Gefühl und vielleicht ein bisschen Erfahrung mit dem Eis einschätzen und vermuten und über try and error testen, ob es funktioniert und hält. [00:28:36]

Atmo: Eis tauen

Musik: Z8033060122 New hope 0‘36

SPRECHERIN

Doch nach fünf weiteren Wochen im neuen Lager, trägt auch diese Scholle die Mannschaft nicht mehr und - bricht.

Atmo: brechendes Eis, Kanu paddeln

SPRECHERIN

Shackleton rettet sich und seine Crew im letzten Moment in offenen Holzbooten, die sie mit sich über das Eis gezogen hatten. Mehrere Tage paddeln sie durch das Schollenmeer und steuern eine kleine Insel im südlichen Ozean an, die noch zur antarktischen Region gehört: Elephant Island. Dass sie es bis hierhin geschafft haben, sagt viel über Shackletons Führungsstil aus, so Stephanie Capparell: 

O-Ton Stephanie Capparell

[00:07:47] You can't underestimate what he did in … [00:08:19]

OV

Man kann nicht unterschätzen, was er auch auf herkömmliche Weise getan hat. [...] Er wusste einfach auch, was er tat, und arbeitete hart daran, immer im Dienst zu sein, immer an Notfallpläne zu denken und wenn etwas nicht so lief, wie er dachte, sofort die Richtung zu ändern.

Musik:  Melting beauty 0‘38

SPRECHERIN

Von Elephant Island aus bricht Shackleton mit fünf Männern in einem Rettungsboot auf, um Hilfe zu holen. Sein Ziel: die rund 800 Meilen entfernte Insel Südgeorgien. Dort organisiert er ein Rettungsschiff, das am 30. August 1916 alle zurückgelassenen Männer wohlbehalten einsammelt.

Atmo Beifall

Alle Besatzungsmitglieder der Endurance überleben die 635 Tage im Eis. War es Shackletons außergewöhnliche Führung, die das möglich machte? Oder schlicht ein glücklicher Zufall?

SPRECHERIN

Diese Frage stellt sich bis heute: Lag es an Ernest Shackleton – und wenn ja, was hat er richtig gemacht?

Stephanie Capparell ist nicht die Erste, die ihn bewundert. Schon 1959 veröffentlicht der amerikanische Journalist Alfred Lansing das wohl detaillierteste Buch über die gescheiterte Expedition. Er wertet Tagebücher und Interviews der Überlebenden aus und legt den Fokus auch auf die psychologischen Aspekte von Shackletons Führung. Alfred Lansing zählt zu den Ersten, der Shackletons Führungsqualitäten hervorhebt, er gibt einige Business-Handbücher über die Methoden des Polarforschers heraus. 

Musik:  Cans and computers (c) 0‘28

Und begibt man sich erst online auf die Suche, werben unterschiedliche Coaching-Agenturen und Führungskräfteseminare damit, wie man anhand der Transantarktisreise wichtige Führungsskills lernen kann. Aber kann man für die moderne Arbeitswelt tatsächlich etwas aus einer gescheiterten Antarktis-Expedition aus dem Jahr 1915 lernen? Und ist Ernest Shackletons Führungsstil der einzig wahre, nur weil er in seiner Situation damit erfolgreich war?

O-Ton Prof. Dr. Martin Högl:

[00:15:55] Wer sich ernsthaft mit der Materie beschäftigt, weiß, dass es keinen idealen Führungsstil gibt, nicht ein Rezept, das wir, ob in der Uni oder sonst wo, den Leuten zeigen können und sie daran trainieren und schulen und sagen: Machs genau so. Führung ist ein hochkomplexer Prozess der Einflussnahme und der Zielerreichung. [00:16:35]

SPRECHERIN

Sagt Professor Martin Högl. Der Wirtschaftswissenschaftler lehrt und forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zum Thema: Führung. Ein universelles Führungsrezept gibt es seiner Ansicht nach nicht, stattdessen existiert eine Vielzahl von Führungstheorien, die jeweils andere Aspekte beleuchten und sich sogar ergänzen. Er schätzt, dass es mittlerweile mehr als 50 verschiedene Leadership-Theorien gibt..

O-Ton Prof. Dr. Martin Högl:

[00:23:57] Jemanden wie Shackleton, den kann ich aus verschiedensten Blickwinkeln anschauen, aus der Sichtweise eines Servant Leaders, der das Wohlergehen und das Wachstum und den Erfolg seiner Mitarbeiter an oberste Stelle steht. Wenn wir an der Uni im Unterricht über dieses Beispiel reden würden, dann könnten wir ihn genauso gut anschauen als transformational Leader, als jemand, der die Veränderung sucht und die auch gestaltet, den Zwang zur Veränderungen erkennt. [00:25:00]

Musik:  Blue ice 0‘28

SPRECHERIN

Und gerade weil Führung ein vielschichtiges Konzept ist, eignen sich Beispiele, um Theorien greifbar zu machen. 

Atmo Wind

Shackletons Expedition ist darüber hinaus auch noch besonders gut dokumentiert, zum Beispiel durch seine Tagebücher und Fotos. All das hilft, Modelle zu veranschaulichen und bietet Ausgangspunkte für Diskussionen.

O-Ton Prof. Dr. Martin Högl:

[00:14:02] So ein Narrativ ist eine gute Sache, aber sie birgt natürlich die Gefahr einer völlig verkürzten, im Kontext völlig verfehlten Sicht auf die Dinge. Und gerade da, glaube ich, liegt viel Verantwortung, natürlich beim Erzähler, aber auch beim Leser. Diese Abstraktion stückweise zu leisten, diese Reflektion zu leisten. [00:14:41]

SPRECHERIN

Führung kann nicht im Sinne eines „How-to“-Manuals verstanden werden, sondern ist ein wachstumsorientierter und persönlicher Prozess. Und gute Führung entsteht nicht durch das Anwenden von vermeintlichen Standardlösungen à la Shackleton, sondern durch ein tiefes Verständnis der eigenen Person und der spezifischen Zusammenhänge, in denen Führung stattfindet.

O-Ton Prof. Dr. Martin Högl:

[00:08:24] Die Kernfrage ist, was bedeutet Shackleton's Erfahrung für mich? [00:08:29][00:06:35] Die große Kunst liegt darin, nicht zu kopieren, was man dort sieht, sondern zu reflektieren, was das für einen selbst bedeutet. 

SPRECHERIN

Denn eines ist klar:

O-Ton Prof. Dr. Martin Högl:

Keiner von uns ist in Shackledons Zeit, keiner von uns in seiner Aufgabenstellung, keiner von uns ist mit seinem Team unterwegs. Und deswegen glaube ich, ist die große Kunst tatsächlich für sich zu reflektieren, was heißt seine Erfahrung für mich, meinen Alltag, meinen Kontext, meine Herausforderungen, mein Team. [00:07:08]

SPRECHERIN

Wer von Ernest Shackleton wirklich lernen will, darf ihn also nicht unreflektiert zum Führungsidol machen. Entscheidend ist, die Geschichte einzuordnen – und dabei die eigene Perspektive nicht zu vergessen.

Musik:  Thin ice 0‘30

Denn auch Shackleton hatte seine Probleme: Er kämpfte immer wieder mit Schulden und war kein verlässlicher Familienvater. Doch als Krisenmanager dieser gescheiterten Antarktis-Expedition hat er viele richtige Entscheidungen getroffen. Ob man die nach ihm benannten Methoden im eigenen Berufsalltag tatsächlich anwenden kann und wann, muss jeder für sich selbst entscheiden. 

O-Ton Stephanie Capparell

 [00:29:07] You need goals. But he said, ultimately it … [00:29:33]

OV

Ziele sind wichtig, aber er sagte, am Ende geht es immer um die Menschen. [...] Shackleton sagte gern: 'Lieber ein lebendiger Esel als ein toter Löwe.' Er fand, es gibt kaum etwas auf dieser Welt, das es wert ist, sein Leben dafür zu opfern – schon gar nicht im Rahmen einer Expedition. Seine Männer kamen für ihn immer zuerst.

Musik:  Melting beauty 0‘42

SPRECHERIN

„Endurance“ – der Name seines Schiffes – bedeutet Ausdauer. Ernest Shackleton hat es nach seinem Familienmotto benannt: „By endurance we conquer“. Also: durch Ausdauer zum Sieg. Und genau dieses Durchhaltevermögen hat ihn und seine Männer gerettet.

Ernest Shackleton war kein perfekter Mensch, kein fehlerfreier Anführer. Aber er zeigte, dass Führung für ihn mehr ist als Strategie. Sie ist Menschlichkeit. 


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