Episode Transcript
Es sollte die aufregendste und spannendste Phase ihres Lebens werden.
Nach ihrem Bachelorabschluss im Marketing nimmt sich die 21-jährige Uni-Absolventin Grace aus England eine einjährige Auszeit.
Sie bereist Südamerika und Neuseeland und danach will sie noch weiter nach Australien und Asien.
Doch als Grace in der neuseeländischen Millionenmetropole Auckland Halt macht, da verschwindet sie plötzlich.
Und das ausgerechnet um ihren 22.
Geburtstag herum.
Niemand weiß, wo Grace Millane abgeblieben ist.
Ihre Eltern machen sich wahnsinnige Sorgen.
Zudem sind sie auf der anderen Seite der Welt.
Was können sie von England aus schon rausfinden?
Vater David setzt sich also kurzentschlossen ins nächste Flugzeug nach Neuseeland, um sich auf die Suche nach seiner Tochter zu machen.
Dabei entdeckt er einen Teil von Grace Leben, von dem er bisher gar nichts wusste.
Der eigentlich harmlos ist, ein Teil, der Gutes bewirken soll, der Liebe und Vergnügen bringen soll.
Grace benutzt in Australien nämlich Dating-Apps.
Ihr Vater muss vor Ort aber leider die schmerzliche Erfahrung machen, dass Dating-Apps auch gefährlich sein können.
Es sind mächtige Instrumente, die viel zu viel Kontrolle über unser Leben haben und die von bösen Menschen gnadenlos ausgenutzt werden können.
Ja, und was eine Dating-App mit dem Verschwinden von Grace Mullane zu tun hat, das erfahrt ihr in unserer heutigen Folge.
Music.
Und damit herzlich willkommen zu Im Schatten der Macht.
Ich bin Ricardia Bramley.
Und ich bin Anne Luckmann.
Hallo.
Unser Fall beginnt am 2.
Dezember 2018.
An diesem Sonntagmorgen, dem 1.
Advent, steht die Familie Millane in Wickford extra früh auf.
Das Städtchen mit rund 33.000 Einwohnern liegt in der Grafschaft Essex, etwa 50 Kilometer östlich von London.
Vater David, Mutter Jillian und die beiden Brüder Michael und Declan Millane versammeln sich alle an diesem Morgen um ein Smartphone.
Sie wollen aus mehr als 18.000 Kilometern Entfernung über WhatsApp einen Videoanruf tätigen und ihrer Grace gratulieren.
Die feiert heute nämlich ihren 22.
Geburtstag.
Und weil Neuseeland elf Stunden derzeit in Großbritannien voraus ist, ist es in Auckland, wo Grace ja gerade ist, bereits Abend.
Doch die Enttäuschung ist groß, denn Grace nimmt den Videocall nicht entgegen.
Sie reagiert auch auf keine einzige Nachricht.
Ihr Bruder Declan sagt später dem Nachrichtenportal Stuff, das war völlig untypisch für sie.
Sie hat sich jeden Tag bei uns per WhatsApp gemeldet.
Grace hat uns regelrecht mit Fotos von ihrer bisherigen Reise bombardiert.
Und ausgerechnet an ihrem Geburtstag bricht plötzlich und völlig unerwartet der Kontakt zu ihrer Familie ab.
Auch bei Freunden aus der Heimat meldet sie sich nicht mehr zurück.
Sie reagiert auf keinen der zahlreichen Glückwünsche.
Es ist ein eigenartiges und äußerst besorgniserregendes Verhalten.
Denn Grace ist eigentlich ständig auf Social Media unterwegs.
Grace hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Familie.
Daher ist den Eltern und den Brüdern sofort klar, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.
Einen Tag nach ihrem Geburtstag nimmt Familie Millane telefonisch Kontakt zur Polizei in Auckland auf.
Sie melden Grace als vermisst.
Doch die Polizei in Neuseeland winkt ab.
Es gäbe keine Hinweise auf ein Verbrechen.
Aber immerhin veröffentlicht die Polizei am 4.
Dezember 2018 ein Foto von Grace mit der Bitte um Hinweise.
Das ist zwei Tage nach ihrem Geburtstag.
Das in ihren Augen lasche Vorgehen der Polizei kann und will die Familie nicht akzeptieren.
Gemeinsam mit Freunden veröffentlichen sie auf Social Media einen Suchaufruf.
Vater David bucht sich zudem umgehend einen Flug einmal um die halbe Welt, um selbst nach seiner Tochter vor Ort zu suchen.
Als er in London ins Flugzeug steigt, da passt das Wetter in England zu seiner Stimmung.
Es ist kalt, grau und regnerisch.
Seine Frau Jillian bleibt dagegen zu Hause.
Das hat einen guten Grund und liegt nicht an den extrem hohen Flugkosten oder gar einer Gleichgültigkeit der Mutter.
Nebst der Sorge um Grace hat Jillian Millane nämlich auch noch Brustkrebs.
Sie muss sich aktuell einer anstrengenden Therapie unterziehen.
Solche Behandlungen kann man nicht unterbrechen.
Zudem wäre so eine lange Reise pures Gift für ihren angeschlagenen Gesundheitszustand.
Deshalb fliegt der Vater alleine.
Wegen der Zeitverschiebung kommt er erst am 7.
Dezember 2018 in Auckland an, bei frühlingshaften Temperaturen und sonnigem Wetter.
David Millane geht sofort zur Polizei, um mit den Beamten dort zu sprechen.
Möglicherweise gibt es ja neue Informationen in dem vermissten Fall seiner Tochter Grace.
Und die gibt es in der Tat.
Zunächst hält der Vater aber eine Pressekonferenz ab.
Mit Tränen in den Augen sagt er Folgendes.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um an jeden zu appellieren, der Grace in den letzten Tagen gesehen, mit ihr gesprochen oder mit ihr in Kontakt gekommen ist, sich mit jedem noch so kleinen Detail zu melden und sich mit dem Ermittlungsteam in Verbindung zu setzen.
Man kann regelrecht fühlen, wie es dem Vater geht.
Er beschreibt seine Tochter als liebenswert, kontaktfreudig und lebenslustig.
Er erklärt, und ich zitiere das mal, Wir sind alle extrem aufgewühlt und es ist zu diesem Zeitpunkt sehr schwierig, die Welle der Emotion zu beschreiben, die wir durchmachen.
Wir sind sehr besorgt um ihr Wohlergehen.
Was die Familie da gerade alles fühlt und durchmacht, das kann man sich eigentlich nicht vorstellen.
Doch bevor wir uns gleich die weiteren Ermittlungen anschauen, werfen wir einen Blick auf das Leben von Grace Mullane.
Sie wird am 2.
Dezember 1996 in ihrer Heimatstadt Wickford in der britischen Grafschaft Essex unter dem Namen Grace Emmy Rose Millane geboren.
Mit ihren Brüdern Michael und Declan versteht sie sich super.
Die Eltern sind liebevoll und auch wohlhabend.
Vater David ist Bauunternehmer und hat eine eigene Firma.
Der Familienzusammenhalt ist stark.
Grace ist eine hübsche junge Frau mit langen, glatten, braunen Haaren, blauen Augen und einem strahlenden Lächeln.
Auf Fotos wirkt sie extrem sympathisch.
Sie sieht auf den ersten Blick aus wie jemand, mit dem man gerne seine Zeit verbringen möchte.
In Wickford hat sie auch eine Menge Freunde und ist überall beliebt.
Nach Abschluss der Schule studiert sie an der University of Lincoln Marketing und Werbung.
Als sie mit 21 Jahren ihren Bachelor in der Tasche hat, will sie sich erstmal ein Jahr Auszeit nehmen.
Sie will die Welt bereisen, neue Erfahrungen sammeln, Leute kennenlernen und sich inspirieren lassen.
Nach ihrem sogenannten Gap Year will sie sich entscheiden, ob sie weiter studiert oder sich ins Berufsleben stürzen möchte.
Ihre Eltern haben nichts dagegen einzuwenden und finanzieren ihr die Reise sogar.
Grace ist selbstbewusst und intelligent.
Was soll da schon passieren?
Doch leider kommt dann alles ganz anders.
Grace kann es gar nicht abwarten, bis ihre große Reise endlich losgeht.
Auf Twitter schreibt sie Ende September 2018, und ich zitiere, Ich zähle schon die Tage, nur noch weniger als einen Monat.
Als sie am 26.
Oktober 2018 endlich in den Flieger steigt, postet sie nochmal.
Ich mache jetzt ein Abenteuer.
Grace reist übrigens alleine, ohne Begleitung.
Ihre erste Station ist in Südamerika.
Die 21-Jährige bleibt dort ungefähr einen Monat.
Sie besucht zahlreiche Orte in Chile und Peru.
Den Tipp mit Südamerika hat sie übrigens von ihrer Mutter Jillian.
Die war selbst als junge Frau in Chile und Peru unterwegs.
Grace wandelt also auf den Spuren ihrer Mutter.
Jeden Tag schickt sie zahlreiche Fotos ihrer Reise in den Familienchat bei WhatsApp.
So sind die Eltern und die Brüder gefühlt immer live mit dabei.
Am 20.
November 2018 geht es weiter.
Ihr nächstes Reiseziel ist Neuseeland.
Dort reist sie erst auf die Nordinsel und besucht Cape Rayinga, den nördlichsten Zipfel von Neuseeland.
Auch von der wunderschönen, unberührten Natur sendet sie zahlreiche Bilder an die britische Heimat.
Nach zehn Tagen geht es dann weiter nach Auckland.
Dort kommt sie am 30.
November 2018 an.
Grace checkt in einem Backpacker-Hostel im Zentrum der Stadt ein.
Das ist günstig und zentral gelegen.
In dem Hostel schläft sie in einem Schlafsaal mit drei anderen Personen.
Doch das stört die junge Frau nicht.
Sie will ja was erleben und Auckland kennenlernen.
In dem Hostel ist sie eigentlich nur zum Schlafen.
So zumindest ihr Plan.
Am nächsten Tag, der Tag vor ihrem 22.
Geburtstag, möchte Grace offenbar nicht alleine sein.
Sie öffnet die Dating-App Tinder auf ihrem Smartphone und swipet sich durch die angezeigten Männer.
Irgendwann bleibt sie bei einem attraktiven 26-Jährigen hängen.
Auch der junge Mann swipet rechts.
It's a match und die beiden verabreden sich noch für den gleichen Abend.
An dieser Stelle wollen wir kurz ein paar Worte über Dating-Apps verlieren.
Ich persönlich finde es super, dass es die gibt und kann auch aus eigener Erfahrung von einem positiven Ausgang berichten.
Aber man darf dabei nicht vergessen, dass das Geschäftsmodell dahinter nicht unbedingt auf die große Liebe ausgelegt ist, sondern soll Nutzerinnen und Nutzer möglichst oft und lange in der App halten.
Sei es, damit sie ein teures Abo-Modell abschließen, um mehr Funktionen in der App zu haben oder natürlich, um Werbung auszuspielen.
Dabei ist man im Dating-Modus auch einfach ein bisschen diesen Apps ausgeliefert.
Wir haben keinerlei Einfluss auf den Algorithmus und damit auf die Treffer, die uns angezeigt werden.
Zudem können diese Plattformen auch negative Trends entstehen lassen.
Laut Florian Buschmann, Gründer der Offline-Helden, der sich seit Jahren für die Prävention von Mediensucht engagiert, führen diese Apps beispielsweise zu einem oberflächlichen Verhalten.
Userinnen und User entscheiden meist innerhalb von Sekunden anhand eines ja oft bearbeiteten Fotos und einer kurzen und ebenfalls meist geschönten Bio, ob sie jemanden treffen wollen oder nicht.
Anstatt jemanden wirklich kennenzulernen, werden Menschen auf ihr vermeintliches Aussehen und wenige Informationen reduziert.
Wir wollen Dating-Apps nicht per se schlecht machen.
Wie gesagt, ich finde die Möglichkeit super, so Leute kennenlernen zu können.
Aber man muss dabei auch vorsichtig sein.
Bei einigen macht sich nämlich schnell das Gefühl breit, dass es da draußen noch was Besseres gibt.
Das große, unverbindliche Angebot macht es dann eben für einige möglich.
Die einfache Verfügbarkeit neuer potenzieller Partner ist da manchmal zu verlockend.
Anstatt sich auf eine Person zu fokussieren, Zeit zu investieren und eine wirklich enge Verbindung aufzubauen, besteht die Tendenz, ständig weiterzusuchen.
Das Ergebnis ist, dass die Menschen, die eine Partnerin oder einen Partner suchen, frustriert sind und es einfach sehr anstrengend ist, immer und immer wieder von vorne mit jemandem anfangen zu müssen.
Ja, Dating-Apps, vielmehr ihr Algorithmus, üben eine große Macht aus.
Wie Anne schon sagt, es gibt viele Positivbeispiele, aber eben nicht nur.
Im Fall von Grace Mullane ist die Sache anders und auch nicht ohne Komplexität.
Das sehen wir später noch.
Jedenfalls will Grace während ihres Gap Years nicht den Mann fürs Leben kennenlernen, sondern einfach nur ein bisschen Spaß haben.
Deshalb entscheidet sie sich für Tinder.
Da geht es im Vergleich zu Hookup-Apps, also Apps, bei denen man sich zum schnellen Sex verabredet, nicht ganz so hoch her, aber wenn man am Ende des Abends mit jemandem im Bett landen möchte, geht das auch.
Muss man nicht, aber man kann.
Grace scheint sich also für den Abend vor ihrem Geburtstag etwas Ablenkung verschaffen zu wollen.
Was dann geschieht, lässt sich glücklicherweise nahezu lückenlos rekonstruieren.
Denn in Auckland ist es im Grunde unmöglich, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, ohne dass man aufgezeichnet wird.
Überall hängen nämlich Überwachungskameras.
An Straßen, in Hotels, Bars, Restaurants und Geschäften.
Das kann man natürlich durchaus kritisch sehen.
Uns hilft es in diesem Fall allerdings enorm weiter.
Am 1.
Dezember 2018, gegen späten Samstagnachmittag, schickt Grace, wie jeden Tag, eine Nachricht in den Familienchat.
Sie berichtet, dass sie gut in Auckland angekommen ist und sich die Stadt auch schon ein bisschen angesehen hat.
Sie schickt ein Foto von einem Weihnachtsbaum in einer Mall.
Am Abend will sie noch in eine Bar gehen.
Ihr Tinder-Date erwähnt sie gegenüber der Familie nicht.
Hätten wir ja aber wahrscheinlich auch nicht.
Exakt 17.37 Uhr verlässt Grace ihr Hostel.
Sie trägt ein schwarzes, kurzärmeliges Kleid, das kurz über dem Knie endet.
Dazu weiße Sneaker und eine kleine Klatsch.
Ihre langen Haare trägt sie offen.
Grace geht gezielt die Straßen entlang.
Dann trifft sie auf einen jungen Mann mit einem Bürstenhaarschnitt.
Er trägt schwarze Schuhe, eine dunkle Hose und ein schwarzes T-Shirt.
Darüber ein hellblaues, offenes Jeanshemd.
Zur Begrüßung umarmen die beiden sich herzlich.
Auf den Bildern der Überwachungskameras wirkt es so, als hätten sie bereits ein inniges Verhältnis.
Ja, das kann eine Freundin von Grace in der Heimat auch bestätigen.
Sie weiß von ihrem Tinder-Date.
Während ihres Treffens schreibt Grace der Freundin, dass sie und ihr Date sich gut verstehen.
Die beiden schlendern entspannt zum Sky-City-Komplex.
Das Einkaufszentrum liegt direkt neben dem 328 Meter hohen Aussichtsturm Sky Tower.
Dort essen die beiden in einem Burger-Restaurant und anschließend besuchen sie noch ein mexikanisches Café.
Der unbekannte Begleiter trinkt zwei Margarita, Grace bestellt Sangria.
Auf den Kameraaufnahmen des Cafés wirkt sie glücklich.
Grace redet und lacht viel.
Nachdem sie wochenlang alleine unterwegs war, scheint ihr die Gesellschaft gut zu tun.
Später am Abend landen sie in der Bar Bluestone Room.
Wer von den beiden die Bar vorschlägt, wissen wir nicht.
Es ist ein Pub im englischen Stil, sowohl von innen als auch von außen.
Im Innenraum ist es schummrig, der Mittelpunkt ist ein Tresen mit sieben Zapfhähnen, aus denen unterschiedliche Beersorten fließen.
Von außen wurde der Bluestone Room aus massiven Steinen gebaut, wie aus den schottischen Highlands.
Das Gebäude, das aus zwei Stockwerken und einem Spitzdach besteht, wirkt neben dem riesigen, supermodernen Häusern wie aus einer anderen Zeit.
Vielleicht trägt ja die Atmosphäre im Bluestone Room dazu bei, dass sich die beiden näher kommen.
Grace und ihr Date sitzen auf zwei Barhockern an einem Bistro-Tisch und fangen im vollbesetzten Pub an wild zu knutschen.
Wie zwei frisch verliebte Teenager.
Grace ist genau zwischen den Generationen Millennials und Gen Z geboren.
Sie ist also eine geborene Social-Media-Nutzerin.
Daher zuckt sie trotz der knisternden Stimmung zwischendurch immer mal wieder ihr Smartphone und schreibt ihrer Freundin in England.
dass sie sich keine Sorgen machen muss.
Ihrem Begleiter scheint das nicht weiter zu stören.
Auch er ist kurz mal an seinem Handy und verschickt um 21.20 Uhr eine Nachricht.
Damit begeht er einen schwerwiegenden Fehler, über den wir gleich noch sprechen werden.
Kurz nach 21.30 Uhr verlassen die beiden Arm in Arm die Bar.
Alles wirkt sehr innig und intim.
Und so geht es auch weiter.
Durch eine kleine Gasse erreichen die beiden das Hotel City Life Auckland in der Queen Street, das neben der Bar gelegen ist.
21.41 Uhr werden die beiden im Aufzug gefilmt, wie sie in den dritten Stock des Hotels fahren.
Es ist das letzte Mal, dass Grace lebend gesehen wird.
Danach fehlt von ihr jedes Lebenszeichen.
Sie ist auf keinem ihrer diversen Social-Media-Kanäle mehr aktiv.
Grace verschickt keine Nachrichten mehr, telefoniert nicht und benutzt auch nicht ihre Kreditkarte.
Sie taucht nicht mehr in ihrem Hostel auf, nachdem sie das um 17.37 Uhr verlassen hat.
Das 22-jährige Geburtstagskind ist wie vom Boden verschluckt.
Als das Ermittlerteam ihre Social-Media-Kanäle überprüft, da fällt ihnen etwas auf.
Elf Minuten, bevor Grace die Bar mit ihrem unbekannten Begleiter verlässt, da schreibt jemand um 21.20 Uhr auf Grace' Facebook-Profil unter ihrem aktuellen Titelfoto diese zwei Worte.
Wunderschön strahlend.
Es ist exakt der Zeitpunkt, als ihr Begleiter im Bluestone-Room auf seinem Smartphone etwas schreibt.
Tja, nur ein Zufall?
Nein.
Als die Polizei den Account des Absenders überprüft, stimmen die veröffentlichten Fotos mit dem Mann überein, mit dem Grace den Abend verbringt und ins Hotel geht.
Sein Name ist Jesse Kempson, ein 26-jähriger Neuseeländer.
Am 8.
Dezember 2018 wird Jesse Kempson im vermissten Fall Grace Millane befragt, die mittlerweile seit einer Woche wie vom Erdboden verschluckt ist.
Jesse trägt ein strahlend weißes Hemd, dazu eine dunkle Krawatte und eine schwarze Anzugweste.
Er ist Gelegenheitsarbeiter und hat sich für die Befragung ordentlich rausgeputzt.
Jesse Kampson bestätigt, dass er sich am 1.
Dezember 2018 mit Grace getroffen hat.
Gegen 22 Uhr will sich Grace aber von ihm verabschiedet haben, sagt er.
Er willigt sogar ein, freiwillig eine DNA-Probe abzugeben.
Zu den Ermittlern sagt er wörtlich, ich habe nichts falsch gemacht.
Hätte Grace aber gegen 22 Uhr sein Hotelzimmer verlassen, dann müsste sie ja auf einer der zahlreichen Überwachungskameras des City Life Auckland Hotels zu sehen sein.
Aber Grace befindet sich auf keiner dieser Aufnahmen.
Es wirkt so, als hätte sie das Hotel niemals wieder verlassen.
Die Polizeibeamten glauben Jesse kein Wort und behalten ihn über Nacht auf der Wache.
Am nächsten Morgen ändert er seine Geschichte.
Er sei betrunken gewesen und daher schnell eingeschlafen.
schlafen.
Grace müsse sein Zimmer verlassen haben, ohne dass er etwas davon bemerkt habe.
Doch diese Aussage entpuppt sich schnell als weitere dreiste Lüge.
Denn während der Nacht haben die Ermittler seine Handydaten ausgewertet.
Und diese sind höchst interessant.
Ab 1.29 Uhr, wo er sich ja in einem alkoholbedingten Tiefschlaf befunden haben will, googelt er aber folgende Worte.
Totenstarre, extragroße Tasche, Teppichreiniger, heißestes Feuer und abgelegene Orte in Whiter-Carrie-Ranges.
Das ist ein Waldgebiet rund um Auckland.
Danach zieht er sich mehrere Pornos rein.
Er hat also definitiv nicht geschlafen, sondern war im Gegenteil sehr aktiv in dieser Nacht.
Okay, und jetzt interessieren sich die Ermittler brennend dafür, was Jesse Kimson gemacht hat, vor und nach dem Treffen mit Grace.
Auf den Überwachungsvideos sieht man, dass er eine etwas spezielle Art hat, sich auf das Date vorzubereiten.
Im Bluestone Room, wo er ja mit Grace landet, bevor die beiden auf sein Hotelzimmer gehen, trinkt er innerhalb kürzester Zeit gleich vier Bier.
Warum?
Wollte er sich Mut antrinken für das, was später kommen sollte?
Spannender als sein Alkoholkonsum ist allerdings sein sogenanntes Nachtatverhalten.
Obwohl er bis zum frühen Morgen an seinem Handy aktiv ist, verlässt er am Tag nach dem Date am 2.
Dezember 2018 gegen 8 Uhr sein Hotelzimmer im City Life Auckland.
15 Minuten später kauft er einen großen Koffer in einem Laden und Reinigungsmittel in einem Supermarkt.
Beide Einkäufe bezahlt er mit seiner Kreditkarte.
Anschließend besteigt er ein Taxi und fährt zu einer Autovermietung.
Vermietung.
Dort mietet er sich einen roten Toyota mit Schrägheck.
Und jetzt haltet euch ganz kurz fest.
Am Nachmittag trifft er sein nächstes Tinder-Date.
Das Treffen hatte er erst am Morgen ausgemacht, kurz bevor er sein Hotel verlässt, um den Koffer zu kaufen.
Das Date findet in einer Bar in einem Vorort von Auckland statt.
Jesse Kempson und sein Date haben sich vor zwei Wochen auf Tinder kennengelernt und schreiben sich in unregelmäßigen Abständen.
Kurz vor ihrem ersten Treffen am 2.
Dezember 2018 wird Jessie immer hartnäckiger und bedrängt sie regelrecht, sich endlich mit ihm zu treffen.
Sein Tinder-Date willigt schließlich ein.
Sie sagt später, dass er bei dem Treffen sehr ruhig war.
Sobald er aber etwas sagt, klingt das ziemlich strange.
Seine Begleitung kann sich zunächst keinen Reim auf seine Aussagen machen.
Er berichtet beispielsweise davon, dass er Freunde bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft hätte.
Natürlich ist es jetzt nicht ungewöhnlich, dass bei einem ersten Tinder-Date gerne angegeben und ein bisschen übertrieben wird.
Ob allerdings ein enger Draht zu Strafverfolgungsbehörden so ein optimaler Türöffner für ein erstes Date ist, das sei mal dahingestellt.
Generell stellt sich bei den weiteren Ermittlungen heraus, dass Jesse bei seinen zahlreichen Tinder-Dates lügt, dass sich die Balken biegen, meldet der New Zealand Herald.
Mal soll er prominente Freunde haben, mal an Krebs erkrankt sein.
Bei einem anderen Treffen gibt er sich als Top-Manager aus, der 150.000 Dollar im Jahr verdient.
Bei einer weiteren Gelegenheit will er einen Juraabschluss gemacht haben.
Außerdem sei er von reichen Leuten adoptiert worden, weil seine Eltern gestorben seien.
Nichts, aber auch gar nichts davon, ist wahr.
Er versucht mit verschiedenen Lügengeschichten seine Machtpositionen über seine Dates auszuspielen, je nachdem, für was die Frauen empfänglich sind.
Aber bei diesem Date am 2.
Dezember ist es anders.
Er will weder Mitleid für eine mögliche Erkrankung, noch Begeisterung für seine angeblichen prominenten Freunde.
Er spricht in wirren Rätseln.
So lässt er zum Beispiel den Satz fallen, dass es verrückt ist, wie man einen Fehler machen kann und dafür den Rest des Lebens ins Gefängnis geht.
Ja, und Jesse legt noch nach und spätestens jetzt wird es ein bisschen gruselig.
Er berichtet nämlich davon, dass er von einem Mann gelesen habe, der von einer Frau gebeten wurde, sie beim Sex zu würgen und sie daran gestorben ist.
Sein Date fühlt sich immer unwohler in der Situation.
Die Frau versucht das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, aber Jessie wird immer unruhiger.
Sie beendet daher das Treffen.
Jessie ist ihr nicht geheuer.
Um nicht noch weitere Zeit mit ihm verbringen zu müssen, nimmt sie extra einen großen Umweg nach Hause, obwohl die beiden den gleichen Heimweg haben.
Dabei dreht sie sich immer wieder um und schaut über ihre Schulter, ob er ihr nicht doch folgt.
Aber Jessie folgt ihr nicht.
Denn er hat noch jede Menge zu tun.
Auf dem Rückweg zum Hotel bittet er sein gerade geflüchtetes Date noch per SMS um ein weiteres Treffen.
Wenig überraschend sagt sie ihm ab und blockiert anschließend seine Nummer.
Um 17.45 Uhr kehrt Jessie nach dem schlechten Date ins City Life Auckland Hotel zurück.
An der Rezeption leiht er sich ein Teppichreinigungsgerät.
Er habe Rotwein verschüttet und wollte den Fleck entfernen.
Die Mitarbeiterin am Empfang erklärt ihm, dass das Housekeeping den Rotweinfleck beseitigen könne.
Aber Jesse lehnt ab.
Das will er selbst erledigen.
Mit dem Teppichreinigungsgerät fährt er im Aufzug in den dritten Stock und verschwindet dann in seinem Zimmer.
Danach ist drei Stunden lang nichts mehr von ihm zu sehen.
Kurz vor 21 Uhr fährt er schließlich seinen gemieteten roten Toyota vor den Hoteleingang.
Er schnappt sich einen Kofferwagen aus der Lobby, nimmt den Aufzug wieder nach oben und kehrt nach wenigen Minuten mit zwei Koffern zurück zum Empfangsbereich.
Den einen Koffer hatte er ja frühmorgens in einem Shop gekauft, Mit dem anderen ist er vor einigen Tagen im Hotel eingecheckt.
Ein Zeuge sieht sogar, wie er sich beim Einladen des großen Koffers sichtlich schwer tut.
Er bekommt den Koffer kaum in den Kofferraum des Toyota gewuchtet und braucht mehrere Versuche.
Als er die Koffer endlich verstaut hat, bringt er den Kofferwagen zurück in die Lobby und parkt den Mietwagen wieder auf dem Hotelparkplatz.
Danach kehrt er in sein Hotelzimmer zurück und bleibt dort die ganze Nacht.
Ganz ehrlich, was macht er denn dort die ganze Nacht?
Geht er jetzt schlafen, oder?
Am nächsten Tag, dem 3.
Dezember 2018, verlässt Jesse schon früh um 6.15 Uhr das Hotel und fährt mit seinem Mietwagen davon.
Er hält nur noch einmal an und kauft in einem Eisenwarenladen eine orangefarbene Schaufel.
In den kommenden Tagen entsorgt er mehrfach Müllbeutel aus seinem Hotelzimmer in verschiedenen Mülleimern der Stadt und im Internet checkt er fast stündlich den Stand der Ermittlungen rund um Grace Verschwinden.
Er liest auch jede veröffentlichte Information über sie.
Offenbar fühlt er sich sehr sicher, denn sonst hätte er unter Garantie das Hotelzimmer schon vor Tagen verlassen.
Die Indizienlage gegen Jesse Kampson ist eindeutig.
Er hat Grace Mullane als letztes lebend gesehen.
Sie ging mit auf sein Hotelzimmer, das sie nicht mehr verlassen hat.
Zumindest nicht mehr lebend.
Die Ermittler gehen davon aus, dass sie von Jesse in seinem Hotelzimmer getötet wurde und dass er dann Grace in dem Koffer aus dem Zimmer geschafft hat.
Später reinigt er den Tatort und entsorgt die Leiche an einem unbekannten Ort mit Hilfe des Mietwagens.
Wenn das so stimmen sollte, dann hätte sich Jesse mit einem weiteren Tinder-Date getroffen, als Grace tot in seinem Zimmer lag.
Es gibt aber nicht nur Indizien, sondern mittlerweile auch handfeste Beweise.
Als Forensiker Jesses Hotelzimmer untersuchen, wirkt es auf den ersten Blick zwar sauber.
Doch mit Hilfe der Chemikalie Luminol kann man feinste Tröpfchen Blut nachweisen, indem man sie auf betroffenen Stellen sprüht und anschließend mit UV-Licht anleuchtet.
Der vermeintliche Rotweinfleck ist, wenig überraschend, ein großer Blutfleck.
Die DNA-Analyse ergibt, dass das Blut von Grace stammt.
Sie ist also definitiv und nachweislich in Jesses Hotelzimmer gestorben.
Auch Jesses Handy ist mittlerweile beschlagnahmt worden.
Bislang wurden ja nur die Bewegungs- und Kontaktdaten ausgelesen.
Jetzt sehen die Ermittler auch, was sich auf dem Smartphone befindet.
Jesse hat nach Mitternacht zehn Fotos der toten Grace Millane gemacht.
Und das auch noch in erotischer Pose.
Damit ist die Beweislage gegen Jesse Kampson erdrückend.
Drei Dinge fehlen allerdings in dem Fall, der jetzt ganz offiziell zu einem Mordfall geworden ist.
Um ihn abzuschließen und vor Gericht bringen zu können, brauchen wir ein Motiv, ein Geständnis, ja und die Leiche von Grace.
Als Jesse die eindeutigen Beweise vorgelegt bekommt, da leugnet er gar nicht.
Grace getötet zu haben.
Es sei aber kein Totschlag und schon gar kein Mord gewesen, sondern ein Sexunfall, sagt er.
Beide hätten einvernehmlich Geschlechtsverkehr gehabt.
Grace wollte dabei laut seinen Worten gewürgt werden und sei dadurch aus Versehen gestorben.
Er wolle sogar noch den Notruf wählen und hatte bereits die 911 in sein Handy eingetippt.
Doch dann bekam er angeblich Panik, sodass er den Notruf nicht absetzen konnte, so Jesse.
Ihr erinnert euch, Das ist so ziemlich die gleiche Geschichte, die er seinem zweiten Tinder-Date am 2.
Dezember 2018 erzählt hatte.
Der Staatsanwalt glaubt daher, dass Jesse bei dem Treffen überprüfen wollte, ob seine Geschichte stimmig ist und sie ihm abgekauft wird.
Lass uns die Aussage mal auf Plausibilität prüfen.
Den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr könnte es ja in der Tat gegeben haben.
Die beiden knutschen ja wild im Papp.
Vielleicht konnten sich die beiden anschließend mehr vorstellen.
Ob Grace auf Würgespiele stand, das ist nicht bekannt.
Aber theoretisch, rein theoretisch möglich.
Also zumindest nicht automatisch ausgeschlossen.
Das ist für einige Menschen ja gar keine so ungewöhnliche Sexpraktik.
Denn durch Sauerstoffmangel soll der sexuelle Kick erhöht werden.
Und natürlich kann man durchaus in Panik geraten, wenn auf einmal eine Leiche vor einem liegt.
Ja, doch zwei Dinge passen da überhaupt nicht ins Bild.
Zum einen braucht es laut Experten mindestens fünf Minuten, bis jemand durch Würgen erstickt.
Das erfordert eine enorme Kraftanstrengung.
Und zudem wird der Gewürgte irgendwann ohnmächtig, bevor er stirbt.
Das bekommt man definitiv mit, wenn jemand beim Sex auf einmal keinen Mucks mehr macht.
Zum anderen erklärt ein Tod durch Erwürgen noch lange nicht, wie eine große Menge Blut auf den Teppich von Jesses Hotelzimmer gelangen konnte.
Bei einem Erstickungstod fließt logischerweise kein Blut.
Immerhin erklärt sich Jesse bereit, die Ermittler zum Versteck von Grays Leiche zu führen.
Er hat den Koffer mit ihren sterblichen Überresten in White-to-Carrie-Ranges verscharrt.
Der Park ist 30.000 Hektar groß, also sogar etwas größer als die gesamten Malediven.
Ohne seine Bereitschaft wäre die Leiche von Grace möglicherweise nie gefunden worden.
Als er die Leiche im Koffer entsorgt, macht er sich nicht allzu große Mühe.
Er verscharrt sie ganz in der Nähe des Scenic Drive, dringt also nicht tief ins Waldgebiet ein.
Die Stelle befindet sich 19 Kilometer westlich von Auckland.
Dort gräbt er mit der frisch gekauften Schaufel ein flaches Loch, in das gerade der Koffer und ein bisschen Erde darüber reinpasst.
Möglicherweise war ihm der lehmige Boden zu hart und er fand, dass Graben zu anstrengend.
Aber wahrscheinlich wollte er die Leiche einfach nur möglichst schnell loswerden und nicht stundenlang ein Grab ausheben.
Grace Leiche, die am 9.
August 2018 gegen 16 Uhr gefunden wird, offenbart grausame, aber auch überraschende Details.
Denn der Gerichtsmediziner kommt nach seiner Untersuchung zu dem Urteil, dass Grace, wie von Jesse behauptet, wirklich erstickt wurde.
Infolge gewaltsamer Strangulation.
Wegen des vielen Blutes in seinem Hotelzimmer sind die Ermittler eher von einer Tat mit einem Messer oder was ähnlichem ausgegangen.
Ein Messer spielt bei der Tat allerdings schon eine Rolle.
Aber nicht bei der Tötung von Grace, sondern bei der Entsorgung ihrer Leiche.
Vielleicht habt ihr euch schon gefragt, wie eine Erwachsene, fast 1,70 Meter große und 58 Kilo schwere Frau in einen Koffer passt.
Das Es geht nur, wenn man etwas nachhilft.
Ihr könnt euch denken, was Jesse getan hat.
Grace hatte bei ihrem Tod übrigens 1,06 Promille.
Sie hatte also schon einiges Intus, hätte dementsprechend beispielsweise nicht mehr Auto fahren dürfen.
Sie konnte aber noch klar ihren Willen äußern.
Der Wert deckt sich mit den Aufnahmen aus den diversen Überwachungskameras.
Auf denen ist ja zu sehen, wie sie am Abend Alkohol trinkt.
Nachdem Grace Leiche entdeckt wurde und feststeht, dass sie getötet wurde, ist nicht nur ihre Familie in tiefer Trauer.
Auch die Öffentlichkeit in Neuseeland ist geschockt.
Die damalige Premierministerin Jacinda Ardern entschuldigt sich einen Tag später, am 10.
Dezember 2018, öffentlich bei der Familie Millane.
Sie sagt in ihrem Statement Folgendes.
Im Namen Neuseelands möchte ich mich entschuldigen.
Ihre Tochter hätte hier sicher sein sollen.
Doch das war sie nicht.
Und das tut mir leid.
Während der Pressekonferenz hat sie selbst Tränen in den Augen.
Immer wieder bricht ihre Stimme.
Jeder kann sehen und hören, wie sehr ihr der Fall an den Nieren geht.
Die Premierministerin ordnet zudem an, dass der Sky Tower zum Gedenken an Grace weiß beleuchtet wird.
In ganz Neuseeland finden zudem Mahnwachen statt.
Eine ganze Nation trauert um die junge Backpackerin aus England.
Lasst uns nochmal über die Ermittlungen sprechen.
So furchtbar die Vorstellung ist, was Jessie mit der Leiche von Grace getan hat, so hat es aber nichts mit dem Tod von Grace zu tun.
Das hat Jessie erst getan, als Grace schon nicht mehr am Leben war.
Die alles entscheidende Frage ist also, ob es einen Vorsatz gegeben hat, Grace zu töten.
Dann wäre es Mord.
Oder gab es einen Kampf nach einem heftigen Streit, bei dem er sie erwürgt hat?
Das könnte man als Totschlag werten.
Oder stimmt etwa Jesses Version mit dem Sexunfall?
Über diesen Sexunfall haben wir ja bereits gesprochen.
Es ist unwahrscheinlich, weil man eben mehrere Minuten jemanden würgen muss, bis er tot ist.
Falls es ein Mord gewesen sein sollte, dann müsste es auch ein Motiv für die Tat geben.
Daher schauen sich die Polizeibeamten das Leben von Jesse Kampson genauer an, um eine Erklärung für sein Verhalten in dieser Nacht zu finden.
Jesse Shane Kampson wird am 28.
Dezember 1991 in Lower Hutt geboren.
Das ist eine Kleinstadt im Süden der Nordinsel von Neuseeland.
Er wächst in der Hauptstadt Wellington auf.
Als er neun Jahre alt ist, trennen sich seine Eltern und die Mutter verlässt die Familie.
Jesse lebt ab sofort mit seinem Vater und Großvater zusammen, die den Jungen aufziehen.
Während seine Mutter im Ausland lebt, muss Jesse mit ansehen, wie sein Vater wieder heiratet und eine neue Familie gründet.
In seiner neuen Rolle als Stiefsohn und Stiefbruder kommt er aber nicht zurecht.
Er fühlt sich nicht geliebt.
Ablenkung findet er nur im Sport.
Auf seiner Schule spielt er leidenschaftlich Softball und steht sogar in einigen regionalen Auswahlmannschaften.
Später holt ihn die Mutter nach Sydney in Australien.
Doch das Wiedersehen ist nicht von Freude geprägt.
Zu tief sitzt der Stachel von der Mutter, verlassen worden zu sein.
Jessie fühlt sich wieder nicht geliebt, weder vom Vater noch von der Mutter.
In Sydney bleibt er bis 2016 und kehrt im Alter von 14 Jahren nach Neuseeland zurück.
Aber auch dort fühlt er sich nicht wohl.
Jesse sitzt zwischen allen Stühlen und hat doch nirgends einen Platz.
Sein Opa behauptet später, dass Jesse während seiner Zeit in Sydney ein Kind gezeugt haben soll.
Das bestreiten allerdings andere Verwandte.
Jesse scheint aber zumindest sexuell frühreif gewesen zu sein.
Jesse hat sich von seiner Familie extrem entfremdet.
Als junger Erwachsener bricht er daher den Kontakt zu Vater, Mutter und Großvater komplett ab.
Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Mal arbeitet er auf dem Bau, mal als Barkeeper.
Oft ist er arbeitslos.
Seinen ganzen Frust über seine Familie und die miesen Jobs, die er annehmen muss, spült er mit reichlich Alkohol runter.
Gleich mehrmals wird er verhaftet, weil er sich in der Öffentlichkeit betrunken aufführt.
Und er wurde auch schon wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt, nachdem er sich betrunken hinters Lenkrad gesetzt hat.
Jesse hat also kein wirklich geregeltes Leben.
Und das versucht er mit seinen zahlreichen Tinder-Dates zu kompensieren.
Hier kann er jede Person sein, die er will.
Anwalt, Manager, reicher Erbe, manchmal aber auch ein Krebskranker, der viel Mitleid bekommt.
Das klingt zwar traurig, ist aber noch lange kein Grund und kein Motiv für einen möglichen Mord an Grace Millen.
Als die Öffentlichkeit über die Ermittlungen gegen Jesse erfährt, melden sich immer mehr seiner ehemaligen Tinder-Dates.
Sie berichten von sexuellen Übergriffen.
Eine junge Frau hat er acht Monate vor dem Date mit Grace auf Tinder kennengelernt.
Sie ist auch Rucksack-Touristin aus England, genau wie Grace.
Jessie vergewaltigt diese Frau sogar.
Dabei muss er so brutal vorgegangen sein, dass sie aus Angst vor ihm nicht zur Polizei geht.
Erst als das Opfer weiß, dass er in Untersuchungshaft sitzt, meldet sie sich bei den Behörden.
Jesse Kampson ist also nicht nur eine gescheiterte Existenz mit einem Alkoholproblem, sondern darüber hinaus auch noch ein Sexualstraftäter.
Und damit kommen wir zu einem möglichen Motiv.
Jesse kann Zurückweisung nicht ertragen.
Laut Staatsanwalt liegt es daran, dass er mit neun Jahren von der Mutter verlassen wird.
Die mütterliche Ablehnung und Zurückweisung hat er nie verarbeitet.
Auch gegenüber den anderen Tinder-Dates, die er sexuell belästigt oder sogar vergewaltigt, übt er Zwang und Macht aus, damit er seinen Willen bekommt.
Möglicherweise wollte die selbstbewusste Grace an diesem Abend nicht das Gleiche wie Jesse.
Möglicherweise wollte sie das Date beenden und geben.
Das weiß nur Jesse.
Und der sagt ja immer noch, dass es ein Unfall war.
Daher plädiert er am 16.
Januar 2019 vor dem Auckland High Court auf nicht schuldig.
Elf Monate nach dem Tod von Grace Millane beginnt schließlich am 4.
November 2019 in Auckland der Prozess gegen Jesse Kampson.
Das Medieninteresse ist gigantisch.
Auch zahlreiche Medien aus aller Welt sind vor Ort und berichten live.
Denn es stellt sich die große Frage, war es Mord, wie der Staatsanwalt glaubt, oder ein Missgeschick, wie Jesse vor Gericht beteuert.
Wie werden sich die Geschworenen entscheiden?
Für die Eltern von Grace, die den Prozess vor Ort im Gerichtssaal verfolgen, ist das alles nur schwer zu ertragen.
Unter Tränen müssen sie den Ausführungen von Jesse Kemsons Anwalt zuhören.
Der konzentriert sich voll auf das angebliche Sexleben von Grace und präsentiert intime Details, die vor allem die Boulevardpresse sensationsgierig veröffentlicht.
Aus Respekt vor der Familie lassen wir diese Details aber aus.
Vor Gericht zeigt Jesse sein Tinder-Gesicht.
Er kann es nicht ertragen, dass andere Leute über ihn richten dürfen.
Er beschimpft die Richter wörtlich als full of shit.
Sie hätten nicht das Recht, ihn zu verurteilen.
Das kommt natürlich weder bei den Richtern gut an, noch macht das vor den Geschworenen ein gutes Bild.
Ob das bei dem Urteil eine Rolle gespielt hat, wissen wir nicht.
Aber hilfreich waren seine Aussagen sicher nicht.
Das Schlussplädoyer des Staatsanwaltes lautet folgendermaßen, ich zitiere.
Jesse Kampson ist ein eiskalter Mörder, der gefühllos und kalkuliert den Mord vertuschen wollte.
Danach hat er sich ein Labyrinth aus Lügen aufgebaut.
Er ist ein Soziopath, dessen Verhalten bereits in der Vergangenheit auffällig war.
Er vergewaltigte, bedrohte und terrorisierte Frauen.
Auch sein Verhalten nach der Tat spricht nicht für einen Unfall oder ein Missgeschick, wie Jesse es ja nennt.
Nach der Tat macht er anzügliche Fotos von der Leiche von Grace und vereinbart bereits sein nächstes Tinder-Date, während Grace ja tot in seinem Hotelzimmer liegt.
Die Geschworenen müssen nur fünf Stunden beraten, als der Prozess nach knapp drei Wochen zu Ende geht.
Sie folgen der Argumentation der Staatsanwaltschaft.
Man muss einen Menschen fünf Minuten ohne Unterbrechung würgen, um ihn zu töten.
Das geschieht nicht aus Versehen, sondern absichtlich und mit Vorsatz.
Das Urteil vom 22.
November 2019 fällt auch dementsprechend aus.
Es lautet, schuldig wegen vorsätzlichen Mordes an Grace Millane.
Manche Geschworene weinen bei der Urteilsverkündung.
So nah geht ihnen der Fall.
Drei Monate nach dem Schuldspruch wird am 21.
Februar 2020 das Strafmaß verkündet.
Jesse Kampson wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Der Richter ordnet an, dass er mindestens 17 Jahre hinter Gittern verbringen muss, bevor er einen Antrag zur Entlassung auf Bewährung stellen kann.
Freuen kann sich Grays Familie natürlich nicht wirklich über den Schuldspruch.
Der Täter sitzt zwar für eine lange Zeit im Gefängnis, aber das macht ihre geliebte Tochter Grace ja auch nicht wieder lebendig.
Mutter Jillian sagt später über den Täter Folgendes.
Wir erwähnen seinen Namen nicht.
Warum sollte ich ihm Raum geben?
Ich denke nicht an ihn.
Es ist mir egal, was mit ihm passiert.
Er ist in unser Leben getreten und hat unsere Familie zerstört.
Im Oktober und November 2020 finden zwei weitere Prozesse gegen ihn statt.
Er wird in neun Anklagepunkten wegen Vergewaltigung, sexueller Gewalt, Morddrohung und Körperverletzung verurteilt.
Eine explizite Haftstrafe wird nicht ausgesprochen.
Jesse hat ja schon lebenslang bekommen.
Am 18.
Dezember 2020 wird seine Berufung im Mordfall Grace Mullane abgelehnt.
Damit ist das Urteil rechtskräftig.
Das bekommt Grace-Vater David aber leider nicht mehr mit.
Er stirbt Mitte November 2020 an den Folgen einer Krebserkrankung.
Er wurde 61 Jahre alt.
Damit müssen die Millanes innerhalb von nur zwei Jahren gleich zwei geliebte Menschen zu Grabe tragen.
Es ist wirklich eine Tragödie.
Um die Schicksalsschläge zu verarbeiten, gründet Mutter Jillian gemeinsam mit ihrer Cousine die Wohltätigkeitsorganisation Love Grace.
Sie setzt sich für Frauen ein, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.
Die Wohltätigkeitsorganisation sammelt Handtaschen und füllt sie mit Hygieneartikeln für Missbrauchsopfer.
Bis Ende 2023 haben Gillian Mullane und ihre Cousine 15.600 Handtaschen in der ganzen Welt verteilt.
Im Jahr 2024 werden die beiden für ihr Engagement mit dem Ritterorden des British Empire geehrt.
Online-Dating, Anna.
Ja, was für eine krasse Geschichte.
Du hast ja ein junges Mädchen oder generell Menschen, egal welchen Alters, benutzen ja mittlerweile Dating-Apps.
Und ob der Hintergrund jetzt ist, die große Liebe zu finden oder den Spaß für eine Nacht, das ist ja egal.
Soll ja jeder das suchen und finden, was er gerne möchte.
Aber den Tod finden möchte ja nun wirklich gar keiner.
Und ich finde das so traurig, weil so dieses ganze Prozedere-Dating-App, das kann schon echt ernüchternd und frustrierend sein.
Und ja, so die Geschichte von Grace Millane zu hören, das macht mich einfach nur super traurig und fassungslos, weil du kannst ja manchen Leuten nicht sofort ansehen, wie böse die sind.
Natürlich nicht, ja.
Der hat ja bei vorherigen Dates auch erzählt, er sei reich, er sei krebskrank.
Also der konnte die Leute ja sehr gut manipulieren.
Und gerade wenn Grace eher darauf aus war, einen lustigen Abend zu haben, ich weiß nicht, vielleicht ist man da auch nochmal ein bisschen lockerer unterwegs.
Ich weiß es nicht.
Aber es ist einfach nur ganz, ganz tragisch, was da passiert ist.
Das stimmt.
Aber uns interessiert, glaube ich, so ein bisschen auch eure Erfahrung mit dem Online-Dating.
Also was haltet ihr zum einen von dem Fall und wie das heute eskaliert ist in dem Fall, aber auch wie reagiert ihr, wenn irgendwas komisch ist bei einem Date zum Beispiel?
Wie schützt ihr euch?
Und weil Anne es ja vorhin auch schon so schön angesprochen hat, uns interessiert aber auch, wenn es schön verlaufen ist.
Also seid ihr vielleicht sogar eine Tinder-Ehe, wenn man so möchte?
Das wollen wir natürlich auch hören.
Schreibt es uns unheimlich gerne in den Kommentaren auf Spotify oder auf YouTube oder auf Instagram.
Da sind wir alles ein Wort im Schatten der Macht.
Und wenn ihr unbedingt wissen wollt, wann die nächste Folge kommt, dann solltet ihr auch das Glöckchen auf Spotify markieren.
Genau, aber wenn ihr uns schon länger zuhört, dann wisst ihr ja, dass jeden Donnerstag eine neue Folge kommt.
Und wenn ihr einen Fall kennt, über den wir hier im Podcast mal sprechen sollen, dann erzählt uns gerne davon doch bei Instagram.
Dann schauen wir uns das doch mal an.
Und dann würde ich sagen, hören wir uns nächste Woche Donnerstag wieder.
Bis ganz bald.
Eure Anne und Ricardia.
Danke an unser Team von Open Minds Media.
Executive Producer Rüdiger Barth, Konzeption Peter Greve, Rüdiger Barth und Manfred Neumann.
Autorin Anna Gelbert Producer Ricardia Bremley Den Schnitt machte Lilli Johansen.
Zusätzliche Unterstützung von Falco Schulte.