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Episode Description
Bei Peter Stamm kann jeder Unort zum literarischen Gelände werden. Sogar eine heruntergekommene Pension im Ruhrgebiet, in der sonst nur Monteure die Nacht verbringen. Oder eben der Ich-Erzähler der Auftakterzählung in Stamms neuem Buch.
Ein Mann, der aus seinem alten Leben hinausgeschleudert wurde und irgendwo gestrandet ist. Präziser gesagt: Ein Skilehrer aus der Schweiz, der nun in einer deprimierenden Skihalle auf künstlichem Schnee Schüler unterrichtet.
Morgens, wenn die Halle noch leer ist, macht er seine erste Abfahrt allein, schließt die Augen und vermeint, die Morgensonne in den Alpen auf seinem Gesicht zu spüren. Jedes Wort sitzt in dieser Geschichte, jedes Detail hat eine Bedeutung. Peter Stamm wertschätzt die Erzählung als Gattung. Doch was kann die Erzählung, was der Roman nicht kann?
„Ich vergleichs gerne mit der Kammermusik. Wenn der Roman die Sinfonie ist, ist die Erzählung die Kammermusik. Das ist eine sehr konzentrierte Form. Man hört jeden Ton, jede Stimme ganz genau. Romane brauchen ein bisschen Schmutz; die müssen auch ein wenig ausufernd sein und nicht perfekt, aber Erzählungen sind wirklich Kleinode, die perfekt sein müssen und perfekt bis ins letzte Wort gearbeitet sind.“
Neun Erzählungen beinhaltet „Auf ganz dünnem Eis“
Parallelwelten, Ausbruchsfantasien, Gedankenfluchten. Stamms Sprache ist scheinbar einfach, manchmal sogar karg an der Leseoberfläche. Doch darunter tun sich ganze ungelebte Leben auf. Neun Erzählungen beinhaltet „Auf ganz dünnem Eis“; jede von ihnen hat ihren Augenblick; kommt an jenen Punkt, an den sie sich von der Wirklichkeit abhebt und zu schweben beginnt.
In der zweiteiligen Titelgeschichte beispielsweise verschmilzt das Leben einer Schauspielerin zunehmend mit ihren noch dazu skurrilen Rollen. In einer anderen Erzählung baut sich ein junger Mann im Keller seines Elternhauses eine Raumstation auf, in der er unter Realbedingungen einen Flug zum Mars simuliert.
Peter Stamm sagt über seine haarscharf am Rand der Wirklichkeit situierten Paralleluniversen: „Zum einen ist das meine Art, wie ich die Welt auch erlebe. Ich bin selbst jemand der in Fantasien... nicht gerade untergeht, aber der oft sich Dinge vorstellt, die nicht real sind. Von daher ist das ein ganz normaler menschlicher Prozess, dass man nicht immer in einer Realität lebt. Zum anderen macht das einen Text ja auch vielschichtiger.“
Peter Stamm zu lesen heißt, sich auf ganz dünnes Eis zu begeben
Eine schwer fassbare Unheimlichkeit durchzieht Stamms Texte. So ruhig laufen sie dahin, so unspektakulär. Doch auf einer außersprachlichen Ebene lösen sie ein beinahe unmerkliches Vibrieren aus, ein Unbehagen.
Peter Stamm zu lesen heißt tatsächlich, sich auf ganz dünnes Eis zu begeben. Es knistert und knackt. Auch darum, weil jede Geschichte jederzeit eine sanfte Wendung ins Ungute nehmen könnte. Seine eigenen Figuren, so Stamm, überraschen ihn selbst auch immer wieder:
„Ich habe die überhaupt nicht im Griff", sagt Stamm. „Und ja, die sind zum Teil schon unheimlich. Oder ich denke: Was tut der wieder? Oder: Warum tut er oder sie das jetzt? Gerade im neuen Buch, da gibt es so Stellen, wo ich denke: Oh nein, bitte nicht. Mach das nicht. Und dann tun sie es doch.“
Markante Ereignisse im Lebensfluss
Wie das Leben selbst auch haben auch die neun Erzählungen in diesem Band keinen versöhnlichen Abschluss, fügt die Erzählung sich ein in einen Lebensfluss, hakt sich jedoch an markanten Ereignissen fest, denn Peter Stamm meint:
„Es ist ja nicht so, dass die völlig im Zufall enden, sondern sie enden ja zumeist an einer Stelle, wo sich für die Figuren etwas entschieden hat. Oder auch wo sie sich selbst entschieden haben. Ich würde schon sagen: Am Schluss einer Erzählung ist ihnen immer etwas klarer als am Anfang.“
Das Unausgesprochene lauert
Die Glückserfahrungen in Peter Stamms Erzählungen liegen in der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Ihnen stehen die äußeren Zwänge – Beruf, Familie, Justiz, soziale Normen – entgegen. Dazwischen, zwischen persönlicher Erfüllung und gesellschaftlicher Reglementierung, lauert etwas. Geheimnisse. Sehnsüchte. Etwas Unausgesprochenes.
Dabei belässt es Peter Stamm. Und trotzdem hat man nach der Lektüre von „Auf ganz dünnem Eis“ eine Ahnung davon bekommen. Und das vermag nur ein Autor, der seine Form in Perfektion beherrscht und vor allem weiß, worüber er zu schweigen hat.