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Episode Description
In ihrem Roman „Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt“, erzählt die Autorin in elf Kapiteln ihre eigene Geschichte, die Traditionen ihrer aserbaidschanischen Familie und die Regeln des Patriachats anhand von Körperteilen. Kapitel Eins: Die Augenbrauen, dann - Augen, Haare, Mund, Schultern, Hände, Zunge, Rücken, Bein, Hals und Bauch.
Die Welt, die Jegana Dschabbarowa beschreibt, ist von Körpersprache geprägt und der Art und Weise, wie Körper auszusehen haben.
Böse Blicke machen sich ein Urteil, ungezupfte Augenbrauen signalisieren Jungfräulichkeit, die weibliche Zunge ist verstummt, die Haare der Frauen müssen lang sein und dürfen nicht geschnitten werden und der wichtigste Körperteil einer Frau ist der Bauch, der gebähren kann und ihre Hände, die die Familie versorgen:
Die wichtigsten Körperteile einer Frau waren die Hände: sie bereiteten Essen zu, wiegten Kinder, wuschen Wäsche, bügelten Männerhemden, wischten den Boden oder Staub – Frauenhände mussten immer beschäftigt sein,Frauenhände und Männerhände Die Erzählerin lernt auch von Kind an, dass die Sprache der Hände einem Geschlecht zugeordnet sind – dass Frauenhände sich kümmern, dass Männerhände sich zu Fäusten ballen.
Sorglosigkeit stand nur Männerhänden zu. Jede Frau in unserer Familie wusste, dass die Hände ihr nicht zum Schreiben gegeben waren. Ihre Worte waren Taten: das tadellos aufgeräumte Haus präsentierte sich wie ein seltenes Manuskript.Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Wir schauten durch den winzigen Türspalt, und sein Zorn prägte sich in unseren Augen ein, seine Fäuste lehrten uns die wichtigste Regel in diesem Haus: Vater niemals wütend machen. Mit jedem Schlag gegen Mutters rechtlosen Körper prügelte er unsere Freiheit in einen Sarg, hämmerte diese Worte immer tiefer ein, warf Erde über unsere Hoffnungen, stampfte mit seinen großen Füßen unsere kleinen Körper fest in einer Kiste mit der Aufschrift ‚Frau‘.Eine Kulturgeschichte des Körpers Es ist beeindruckend und faszinierend zu lesen, wie Jegana Dschabbarowa ihre Familiengeschichte als eine Kulturgeschichte des Körpers erzählt. Die Erwartungen, die an ihn gestellt werden; die traditionellen Handlungen und Gesten, die die Körperteile auszuführen haben. Sprache dient nur dazu, die Normen, Regeln und Verbote zu vermitteln:Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Uns sagte sie, was wir anziehen sollten, wie wir uns verhalten sollten, was wir tun durften und was nicht, was wir sagen durften und was nicht, liebevolle Worte sagte sie uns nie. Meistens erteilte sie uns Anweisungen, wir wussten natürlich, dass sie uns liebte, aber ausgesprochen wurde es nie. Mama hatte keine Wertschätzung für Worte, und als sie erfuhr, dass ich Gedichte schreibe, war sie sehr verwundert. Es beunruhigte sie, dass ich nicht schweigen konnte, dass ich meinen Standpunkt immer äußern und verteidigen musste.Krankheit als Ausweg Dieser über Generationen weitergegebene Kreislauf von unhinterfragten Traditionen wird radikal unterbrochen, als die Erzählerin lebensbedrohlich krank wird. Die Symptome der neurologischen Krankheit Dystonie, bei der Muskeln so verkrampfen, dass einfache Bewegungsabläufe wie Gehen, Sitzen, Sprechen und Essen nicht mehr möglich sind – verweigern die Fortsetzung der ihr angedachten Körperrolle:Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Alles: meine Vergangenheit, die Vergangenheit der Frauen meiner Familie, die Geschichte eines einzelnen Körpers – das alles lag nun auf dem kalten Boden des Behandlungsraums. Ich wusste, dass ich nie wieder ein Teil der Vergangenheit sein würde, nie mehr so leben würde wie bisher, mir nie mehr lange Zöpfe flechten würde wie meine Großmütter, mir war ein vollkommen anderes Schicksal zugedacht.Die Krankheit sei für sie zur Freiheit geworden, erzählt sie. Sie habe nicht nur verstanden, dass sie einen Körper hat und somit Handlungsmacht, sondern auch, dass eine lebensbedrohliche Krankheit sich ähnlich anfühlt wie Diskrimierung. In beiden Fällen, wird dem Körper sein Dasein nicht zugestanden. Allein die Anwesenheit eines nicht akzeptierten Körpers, seines Aussehens, wird für die Umgebung zu einer Provokation. Schreiben bedeutet für Jegana Dschabbarowa deshalb auch Aufbegehren, in ihrem Ausweg aus dem Schweigen will sie Worte finden für das, was Generationen von Frauen vor ihr nicht aussprechen konnten. Diskriminierung der aserbaidschanischen Diaspora in Russland Mit ihrer Geschichte, die sie nicht nur um ihrer selbst willen erzählt, sondern auch um Wort zu ergreifen für alle Frauen in ihrer Familie, die ihre Gefühle nie ausgedrückt hätten, schreibt sie auch gegen die Unterdrückung und Diskriminierung der aserbaidschanischen Diaspora in Russland an. So ist ihr Buch auch ein Versuch, verloren gegangenes, ausgelöschtes Wissen über die Aserbaidschanische Community, ihre Traditionen und Bräuche wieder herzustellen, nicht zuletzt als literarischer Widerstand gegen russische Unterdrückung. Ein tief poetischer, literarisch außergewöhnlicher und existenzieller Roman, der daran glaubt, dass Sprache eine Zuflucht sein kann.Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
