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"Auf diesen Seiten wird meine Mutter, meine Gangsterin leben" – Die bewegende Lebensgeschichte von Arundhati Roy

October 7
5 mins

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Episode Description

Als Arundhati Roys Mutter Mary Roy im September 2022 stirbt, ist die Autorin „am Boden zerstört“, ihr „Herz gebrochen“. Und gleichzeitig wundert sie sich über die Heftigkeit ihrer Gefühle. Schließlich hatte sie ihre Mutter mit achtzehn verlassen, war regelrecht geflohen aus der konservativen, engen südindischen Kleinstadt – aber auch vor ihrer Mutter, die ebenso inspirierend wie toxisch sein konnte.
Ich verließ meine Mutter nicht, weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können. Wäre ich geblieben, wäre das unmöglich geworden.

Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm

Eine Mutter – zwei Gesichter „Meine Zuflucht und mein Sturm“ heißt Arundhati Roys Memoir auf Deutsch – keine sentimentale Mutter-Tochter Geschichte, sondern das ehrliche Portrait einer extrem ambivalenten Beziehung. Mary Roy hat ihre Tochter geprägt, aber auch verletzt und gedemütigt – immer wieder.   Sie war eine Naturgewalt. Sie verließ ihren trinkenden Mann, zog ihre Kinder alleine auf. Und gründete in Kerala eine bis heute renommierte Schule und kämpfte für die Rechte von Frauen in Indien. Ihr größter Sieg: Sie gewann einen Prozess vor dem obersten Gerichtshof, der syrisch-christlichen Frauen in Indien die gleichen Erbrechte wie Männern verschaffte – ein bahnbrechendes Urteil. Doch Arundhati Roy beschreibt schonungslos auch die Kehrseite dieser Stärke: Mary Roy war gleichzeitig eine Mutter, die zu ihren eigenen Kindern grausam sein konnte. Sie ließ die junge Arundhati allein am Straßenrand zurück, als Strafe, weil sie in einem Gespräch nicht brilliert hatte. Noch prägender ist die Erinnerung an die Gewalt gegen ihren älteren Bruder, als die Mutter einmal mit seinem Zeugnis unzufrieden war.
Ich tat so, als würde ich schlafen in der Nacht, als sie meinen Bruder holte und ihn – den schlafwandelnden kleinen Jungen – in ihr Zimmer führte. Ich folgte ihnen leise und beobachtete durch das Schlüsselloch, wie sie ihn schlug, bis das dicke, hölzerne Lineal zerbrach. „Mein Sohn kommt nicht mit einem Zeugnis nach Hause, in dem „durchschnittlicher Schüler“ steht.
Am Morgen nahm sie mich in den Arm und sagte: „Du hast ein ausgezeichnetes Zeugnis“. Ich schämte mich. Seit damals werden alle meine persönlichen Erfolge von einer unguten Vorahnung begleitet. Wenn auf mich angestoßen oder mir applaudiert wird, habe ich immer das Gefühl, dass jemand anderes, jemand, der still ist, im Zimmer nebenan geschlagen wird.

Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm

Die Zerrissenheit steckt schon im Titel Diese Ambivalenz spiegelt sich auch im Titel. Der Originaltitel „Mother Mary Comes to Me“ zitiert zwar die berühmte Beatles-Zeile aus „Let It Be“, in der Paul McCartney über seine verstorbene Mutter singt, die ihm Trost spendet. Doch Roys Mutter ist keine reine Trösterin. Der deutsche Titel „Meine Zuflucht und mein Sturm“ fängt diese Zerrissenheit weitaus treffender ein. Und diese Zerrissenheit ist auch Leserinnen und Lesern von Roys Weltbestseller „Der Gott der kleinen Dinge“ vertraut. Dort war es Ammu, die alleinerziehende Mutter der Zwillinge, die zärtlich und hart zugleich sein konnte. Auch Ammu ist eine Mutter, die kämpft und rebelliert. In ihrem Memoir wird deutlich: Arundhati Roy hat zumindest einige Charakterzüge ihrer Mutter in ihrer Ammufigur literarisch verarbeitet. Und beide Bücher kreisen auch um die Frage, wie Liebe und Gewalt, Schutz und Zerstörung in derselben Person existieren können.
Was mich betraf, so lehrte mich Mrs Roy zu denken und wütete dann gegen meine Gedanken. Sie lehrte mich, frei zu sein, und wütete gegen meine Freiheit. Sie lehrte mich zu schreiben und grollte der Autorin, zu der ich wurde.

Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm

Vom Gott der kleinen Dinge zur Göttin der großen Wut Geschickt verbindet Arundhati Roy die Geschichte ihrer Mutter, ihre eigene Biografie und die politische Geschichte Indiens. Sie beschreibt, wie sie zur Schriftstellerin wurde und mit dem Booker Prize über Nacht weltberühmt. Wie sie beginnt, ihre Popularität zu nutzen, um den aufkommenden Hindunationalismus anzuprangern, das Kastenwesen und die Behandlung der sogenannten „Unberührbaren“, wie sie gegen ein Staudammprojekt protestiert und die Kaschmirpolitik Indiens kritisiert. In diesen Kapiteln ist Mary Roy nicht sehr präsent, und doch war sie als Vorbild der unnachgiebigen Kämpferin eine stete Kraftquelle.
Jahrelang wanderte ich danach durch Wälder und Flusstäler, durch Dörfer und Grenzstädte in dem Versuch, mein Land besser zu verstehen. Unterwegs schrieb ich. Es war der Anfang meines ruhelosen, renitenten Lebens als aufrührerische Verräterin und Schriftstellerin. Eine freie Frau. Freies Schreiben. Wie es mir Mother Mary beigebracht hatte.

Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm

Wie nah Schutz und Zerstörung beieinander liegen „Meine Zuflucht und mein Sturm“ ist somit weit mehr als ein Memoir. Es ist die Sezierung einer komplexen Beziehung und zugleich ein Schlüssel zum Verständnis für das gesamte literarische und politische Werk von Arundhati Roy. Mit brutaler Ehrlichkeit und in poetischer Sprache demontiert sie den Mythos der bedingungslos liebenden Mutter. Statt einer einfachen Versöhnung oder Anklage wählt sie den Weg der literarischen Analyse, um zu zeigen, wie nah Schutz und Zerstörung beieinander liegen können.
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