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Episode Description
Italien hat eine neue Hymne, gewählt vom Volk, via App. So läuft es nun in der neuen Welt: Die wichtigen Entscheidungen, etwa die Verteilung von Wohnraum, die fällen die Menschen gemeinschaftlich oder per Los, alles verfügbar in der RCE-App.
Ein post-revolutionäres Europa beschreibt Sibylle Berg in „PNR: La Bella Vita“, dem letzten Teil ihrer Trilogie. In den Vorgängerromanen „GRM“ (etwa 700 Seiten) und „RCE“ (um die 800 Seiten) entwarf Berg – Achtung, Kurzfassung – eine kaputte, spätkapitalistische und düstere Technokratie, die nur durch Neustart gerettet werden kann.
Die Welt lag also im Argen – zumindest für alle, die nicht über millionenschweres Vermögen verfügen. In „RCE“ arbeitet eine Gruppe Hacker im Verborgenen gegen das System, am Master-Code. Die Attacke gelingt.
Nur ein bisschen Spaß an schlechter Laune
Und nun also „PNR: La Bella Vita“: Der letzte Teil der Reihe widmet sich dem Leben nach der Remote Code Execution, nach dem großen Hack. Ein beinahe schlanker Roman mit knapp 400 Seiten. Weil Sibylle Berg mehr Spaß am Schreiben von Weltuntergangsfantasien hat?
„Nee, ich lieb den Untergang gar nicht. Ich hatte wahnsinnige Freude daran, einmal zu schreiben, also das zu beschreiben, wo die meisten kapitalismuskritischen Bücher enden. Also das stimmt einfach nicht, dass ich Spaß an schlechter Laune habe. Na ja, ein bisschen schon.“
Eine neue Verfassung
Und was braucht eine neue Welt? Neue Regeln. Die stellen die Menschen, klar, selbst auf.
Die Verfassung, die wir gerade sammeln, wird irgendwann fertig sein. Im Moment filtert eine von unseren Nerds programmierte KI die sechs Millionen Verfassungstext-Vorschläge von BürgerInnen.Anarchie ist direkte Demokratie Das Europa, das Berg in „PNR“ entwirft, ist befreit vom Kapitalismus, von faschistischen Regierungen, von Parteien, von Regierungen überhaupt. Haupthandlungsort des Romans ist Italien. Die Gesellschaft dort ist selbstorganisiert, frei, eben anarchisch. „Anarchism is democracy without the government. Most people love democracy; most people don’t like the government very much, “das sagte Kulturanthropologe David Graeber einmal in einem Interview. Anarchie, das sei eine direkte Demokratie, eine Demokratie ohne Regierung, so definierte er dieses Gesellschaftsmodell. Berg formuliert die Anarchie aus, hat die alte Ordnung aufgelöst. Dafür recherchierte die Dramatikerin, wie auch schon bei ihren Vorgängerromanen, intensiv: „Die neue Gesellschaftsordnung, die ich mir ausgedacht habe, basiert auf sehr, sehr vielen bereits vorhandenen wissenschaftlichen Denkexperimenten. Also von David Graeber über wirklich Wissenschaftlerinnen, die neue Ernährungsformen, neue Formen des Zusammenlebens der Ökologie erforscht haben. Ich habe wieder ganz, ganz viele Sachen gelernt und sehr wenig Fakten verwendet. Also das ist alles faktenbasiert, das kann man auch dann nachlesen, wenn man richtig Spaß dran hat.“ 93 Vorschläge für das neue Zusammenleben formuliert Berg aus ihren Recherchen, die strukturieren den Roman, etwa:Quelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
Es gibt keine NormalitätundQuelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
Keine Herrschaft, keine Eigentumstitel, nur geteilte VerantwortungoderQuelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
Und nun gelten sie wieder: Die MenschenrechteErzählt im typischen Berg-Ton Don, die Ich-Erzählerin in „PNR“, macht Berg zur Chronistin dieser Zeit des Umbruchs. Don, Karen, Pjotr, der Hacker Ben – die Figuren, einst Jugendliche aus dem englischen Rochdale, wo „GRM“ spielt, bleiben Bergs Medium, um vom Neuaufbau zu erzählen. Don erinnert sich oft zurück, an die Zeit vor dem Hack. Vieles kennt man daher schon aus „RCE“ und wiederholt sich. Stilistisch ist das aber typisch Berg, da lässt sich ein Auge zudrücken. Es gibt Einschübe und Wiederholungen, der Roman ist collageartig gebaut, wenig Plot, viel Inhalt. Sprachlich humorvoll, aber immer scharfzüngig. Ja, vielleicht sogar ein wenig zynisch? „Ich wehre mich auch vehement gegen den falsch verwendeten Begriff des Zynismus“, meint die Autorin bestimmt. „Ich denke immer, dass die meisten meiner Bücher und Stücke eher realistisch sind. Zynisch hat eine große Verzweiflung und einen sich lustig machen. Davon bin ich weit entfernt.“ „Ich bin überhaupt nicht pessimistisch“ 2019 erschien „GRM“, sechs Jahre sind seither vergangen, eine Zeit geprägt von Kriegen, Krieg in Europa, rasend schneller technologischer Entwicklung, Pandemie. Da erstaunt es doch, dass vor diesem Hintergrund Bergs Erzählung beinahe zuversichtlicher wird? Oder? „Ich bin überhaupt nicht pessimistisch. Die Welt dreht sich, die gibt es, ob mit Menschen oder ohne Menschen. Aber auch die Menschen sind erstaunlich anpassungsfähig und zäh. Und wir wissen überhaupt nicht, wie es weitergeht. Wir wissen ja noch nicht mal, wie unser Leben in einem Jahr aussehen wird. Wir können Pläne machen, die meistens scheitern“, erzählt Berg. „Es gibt immer wieder komplette Überraschungen. Wie gesagt, es gibt Revolutionen oder gab es. Es gibt Zusammenbrüche von Systemen von innen heraus. Es gibt auf einmal Grenzöffnungen. Es gibt Städte, die auf einmal begrünt werden und sich vom Asphalt befreien. Alles ist möglich. Es kann alles im Desaster enden für einige Teile der Welt oder auch in einem besseren Leben für die Menschen. Also von daher ist es spannend.“ Mit „PNR: La Bella Vita“ wagt Sibylle Berg etwas: Ihre Anarchie ist keine naive Utopie, sondern ein Versuch, konkrete Vorschläge aus Theorie und Wissenschaft literarisch zu verarbeiten. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, bekommt ein radikales und erstaunlich hoffnungsvolles Finale einer kompromisslosen Trilogie.Quelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita