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Episode Description
Blutrünstige Barbaren oder freiheitssuchende Abenteurer? Wie waren Piraten wirklich? Ein Blick in die Geschichte offenbart Leben voller Abenteuer, Mordlust - und sogar Demokratie unter Piraten. Von Niklas Nau (BR 2018)
Credits
Autor: Niklas Nau
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Stefan Wilkening, Caroline Ebner, Christian Baumann
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Thomas Morawetz
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2018
Besonderer Linktipp der Redaktion:
BR (2025): Nicht mehr mein Land
Im Flüchtlingssommer 2015 ist Ali Gutsfeld stolz auf sein Land. Damals zeigt sich Deutschland offen, hilfsbereit, empathisch. Und Angela Merkel verspricht: "Wir schaffen das". Aber schon im selben Jahr gibt es heftige Proteste gegen Flüchtlinge. Merkel sagt daraufhin, wenn wir uns für Hilfe in Notsituationen entschuldigen müssen, "dann ist das nicht mein Land". In seinem neuen Podcast will Ali Gutsfeld herausfinden: Was ist in den letzten zehn Jahren falsch gelaufen? Was können wir dagegen tun? Und er fragt sich: Ist das noch mein Land? In sechs Folgen trifft er Menschen, für die 2015 alles verändert hat. Ein Podcast für alle, die ihr Land nicht wiedererkennen. Damit wir wieder lernen, miteinander zu reden. ZUM PODCAST
Linktipps
Radiowissen (2025): „Pirate Queens“ – Frauen unter der Totenkopf-Flagge
Sie sind Mythos: "Pirate Queens", Seeräuberinnen, der Schrecken der Karibik. Es gab sie wirklich, sie waren reale Personen in der Geschichte der Piraterie. Als Abenteurerinnen, Kämpferinnen für Frauenrechte und leidenschaftliche Liebhaberinnen sind sie zu Ikonen der Popkultur geworden. Autor: Frank Halbach JETZT ANHÖREN
funk (2022): Mythos Piraten – Wie lebten sie wirklich?
Piraten – wir kennen sie von Figuren wie Captain Jack Sparrow, dem wohl berühmtesten Piraten Hollywoods . Doch ein Leben als Pirat bedeutet in der Realität mehr als versteckte Schätze zu heben. Und selten geht die Geschichte der Piraten in der Vergangenheit so gut aus, wie Hollywood es uns vermittelt. Es ist vor allem ein Leben geprägt von Brutalität, Not und Armut. Die Piraterie ist so alt wie die Schifffahrt selbst. Diebe auf dem Meer gibt es, seit Handel über den Seeweg betrieben wird. Die Kilikischen Seeräuber versetzen schon in der Antike die Seeleute auf dem Mittelmeer in Angst und Schrecken. Piraten rauben, morden, plündern, nehmen Geiseln und bereichern sich. Auch das wird oft verklärt. Wieso es zu nahezu jedem Zeitpunkt in der Geschichte Piraten gab, was sie antreibt und wie ihr Leben tatsächlich aussah, erklärt euch Mirko in diesem Video. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte gibt es auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Und hier ein Auszug des Audios zum Nachlesen:
Erzähler
Daniel Collins ist 23, und hat schon viele Seefahrten als Marinesoldat hinter sich, als er 1824 an Bord der Betsey geht. Von Wiscasset an der Ostküste der USA sticht die Crew des Handelsschiffs in See. Die Fahrt sollte zum Albtraum werden:
Erzählerin
Nur zwei Tage später läuft die Betsey in stürmischen Gewässern zwischen Florida und Kuba auf Grund. Die Mannschaft kann sich in einem beschädigten Rettungsboot auf eine kleine Insel retten. Doch sie sind nicht die einzigen dort:
Zitator
“Meine Ängste, dass es Piraten waren, bestätigten sich nun; und als ich sie so sah – ohne jeden Anreiz oder Provokation folterten sie einen Seemann, der keinen Penny besaß und durch einen Schiffbruch in ihre Fänge geraten war, krank und fast völlig hilflos, der Sie anflehte, ihn nicht in der Blüte seines Lebens (…) zu töten und sie daran erinnerte, dass er Frau und seine Eltern zurücklassen würde – da brach ich in Tränen aus und stand unwillkürlich auf, wie, um mein Leben teuerst zu verkaufen.“
Erzähler
Collins schafft es tatsächlich, den Piraten zu entkommen. Nach einer abenteuerlichen Irrfahrt gelangt er zurück nach Wiscasset, wo er seine Geschichte aufschreibt. Eine Geschichte, in der uns Piraten so begegnen, wie wir sie auch aus manch anderen Legenden und Erzählungen kennen: Gierig, verschlagen, grausam, böse. Immer bereit, zu morden und zu brandschatzen, und hilflose Opfer über die Planke zu schicken, hinab zu den Haien.
Erzählerin
Und doch kennen wir noch ein zweites Piratenklischee: Das vom romantischen Freiheitssucher und Gentleman-Abenteurer mit Herz aus Gold. Captain Jack Sparrow ist so einer, oder Errol Flynns „Captain Blood“.
Erzähler
Welches Bild stimmt, wer waren Piraten wirklich? Grausame Schurken, romantische Abenteurer, oder ein bisschen was von beidem?
Erzählerin
Piraten gab es schon in der antiken Welt; zeitweise wimmelte etwa das Mittelmeer nur so von Ihnen.
Erzähler
Vor allem dort, wo Krieg herrscht, gedeiht die Piraterie während der Antike. Griechische Stadtstaaten wie Sparta oder Athen waren sich nicht zu schade, in Konflikten auch auf angeheuerte Piratenflotten zurückzugreifen. Der Makedonische König Philipp beschwert sich in einem Brief an die Athener so über einen von deren Verbündeten:
Zitator
Er hat alle Kaufleute, die nach Mazedonien segeln, als Feinde behandelt, gefangen genommen und als Sklaven verkauft. Und Ihr habt ihm dafür noch gedankt! Es würde keinen Unterschied machen, würdet offen zugeben, Krieg gegen mich zu führen. Denn als wir offen im Streit lagen habt Ihr ebenso Seeräuber gegen mich ausgesendet, Händler versklavt, meinen Feinden geholfen und meine Länder bedroht.
Erzählerin
Doch mit dem Weltreich von Philipps Sohn, Alexanders dem Großen, und später im Römischen Reich wird es für Piraten ungemütlicher: In diesen befriedeten Imperien sind sie bloß noch eine Bedrohung für Sicherheit und Handel. Immer wieder führen die Herrscher deswegen Feldzüge gegen die Seeräuber, der Politiker und Redner Cicero bezeichnet Piraten als „Feinde aller“ – als Feinde der Menschheit.
Erzähler
Doch wirklich sicher vor Piraten sind Seeleute und Küstenbewohner nie lange: Ob vor den Wikingern in ihren gefürchteten Drachenbooten, den Vitalienbrüdern um Gödeke Michels oder den Piratenflotten der sogenannten Barbareskenstaaten Nordafrikas, die vom 16. bis ins 19. Jahrhundert die Küsten Italiens, Spaniens und Portugals unsicher machten.
Erzählerin
Die Zeit jedoch, die unser Bild von Piraten entscheidend geprägt hat, beginnt Mitte des 17. Jahrhunderts und dauert weniger als hundert Jahre: Das „Goldene Zeitalter der Piraterie“.
Erzähler
Die Weltmeere waren damals zu geschäftigen Orten geworden. Aus der „neuen Welt“ – den Amerikas – brachten Schiffe Tabak, Holz, Zucker, Silber, Gold, und andere Reichtümer zu den Kolonialherren im alten Europa, aus Asien flossen Gewürze, Indigo, Seide, Salpeter und Tee. Aus Afrika wiederum brachten die Kolonialherren „menschliche Ware“ übers Meer: Verschleppt, um auf den Plantagen und in den Minen der neuen Welt zu schuften. Luxus und Gebrauchsartikel aus Europa und noch vieles mehr – Jedes Schiff war ein Vermögen wert, ein einziger Überfall konnte eine Crew zu reichen Männern machen.
Erzählerin
Eine Verlockung, der auch die europäischen Kolonialmächte selbst nicht widerstehen konnten. Um den eigenen Profit zu vergrößern und konkurrierende Nationen zu schwächen, gaben die Kolonialstaaten damals Kaperbriefe aus. Wer solch einen Brief besaß, durfte als „Freibeuter“ – als eine Art legaler Pirat – Schiffe feindlicher Nationen überfallen. Sir Francis Drake hatte es mit Angriffen auf die Spanische Silberflotte im 16. Jahrhundert zum Nationalhelden mit Ritterschlag gebracht. Ein Beispiel, dem viele Kaperfahren in der Folge nachzueifern suchten.
Erzähler
Doch was, wenn ein vielversprechendes Handelsschiff nun mal die „falsche“ Flagge hatte? Oder wenn ein neu geschlossener Friedensvertrag Schiffe einer Nation auf einmal Tabu machte? Vom ehrenhaften Freibeuter zum geächteten Piraten war es nur ein kleiner Schritt – den im goldenen Zeitalter eine ganze Reihe von Seeleuten wagten.
Erzählerin
Etwa Captain William Kidd. Eigentlich war der erfahrene Seefahrer von den Engländern als Piratenjäger engagiert worden: Er sollte die Piraterie im indischen Ozean eindämmen. Doch Kidd wurde selbst zum geächteten Piraten.
Erzähler
Kidds legendärer Schatz inspirierte Louis Stevensons berühmten Piratenroman „Die Schatzinsel“ und beflügelt auch heute noch die Fantasie von Glücksrittern.
Erzählerin
Noch viele weitere, bis heute legendäre Piraten, stammen aus dieser Zeit: Etwa Captain Henry Morgan, Bartholomew Roberts und Jack „Calico“ Rackham. Und natürlich auch er, der wohl berühmteste Pirat:
Erzähler
Blackbeard!
Zitator
Dieser Bart war schwarz, und ließ er denselben bis zu einer entsetzlichen Größe wachsen, dass seine ganze Brust davon bedeckt war, und derselbe ihm bis zu den Augen hinauf ging.
Erzähler
In den Kampf gezogen sein soll Blackbeard mit drei Paar Pistolen über der Brust und brennenden Lunten unter dem Hut.
Zitator
Dieser Aufzug, wenn man dazu die Gestalt seiner Augen hinzusetzet, deren Blicke von Natur wild und grausam waren, machten ihn so erschrecklich, das man keine Furie in der Höllen sich entsetzlicher einbilden kann als diese Gestalt. Seine Humeur und Neigungen kamen mit seiner barbarischen Gestalt wohl überein.
Erzählerin
So ist Blackbeard in dem Buch „A General History of Pirates“, das 1724 veröffentlicht wurde, beschrieben. Viel von dem, was wir heute über die Piraten des Goldenen Zeitalters zu wissen glauben, stammt daraus. Der Autor: ein Captain Charles Johnson – ein Pseudonym. Lange Zeit war die vorherrschende Meinung, dass Robinson Crusoe-Schöpfer Daniel Defoe dahinter stecke, aber auch der Journalist und ehemalige Seemann Nathaniel Mist gilt als möglicher Kandidat. Doch so ungewiss wie die Autorenschaft ist auch der Wahrheitsgehalt mancher Passagen in der „General History“ und vieler anderer Piratenlegenden aus dieser Zeit.
Erzähler
Heute gibt es ernsthafte Zweifel an vielen Schauergeschichten um den schrecklichen Schwarzbart:
Erzählerin
Etwa, dass er ganze vierzehn Mal geheiratet haben soll, und seine vierzehnte Frau, die 16-jährige Mary Ormond, in der Hochzeitsnacht zwang, auch seine Crew sexuell zu befriedigen. Belege dafür, dass Blackbeard überhaupt je verheiratet war, gibt es nicht. Und als Blackbeard das Schiff Concorde kaperte um es zu seinem neuen Flagschiff zu machen, was tat der grausame Seeräuber dem besiegtem Kapitän der Concorde da an? Kielholen? Über die Planke schicken?
Erzähler
Nein. Er gab ihm eines seiner eigenen zwei Schiffe und ließ ihn ziehen.
Von anderen Piratenkapitänen gibt es dabei durchaus so viele Berichte von Grausamkeiten, dass sich nicht alle als Seemannsgarn abtun lassen. Etwa die vielen Gewaltexzesse des Captain Low, einem Londoner Kleinkriminellen, der es mit seiner Skrupellosigkeit in der rauen Welt der Piraten schnell bis zum Kapitän gebracht hatte. Einem Kapitän, der die Bordkasse seines Schiffs versenkt hatte, soll Low etwa die Lippen abgeschnitten haben, bevor er die gesamte Schiffsbesatzung ermordete.
Erzählerin
Den grausamen Ruf Captains Low‘s hatte auch der junge Fischer Philip Ahston im Kopf, als er 1722 in die Hände von Piraten fiel.
Zitator
Sie brachten mich auf die Brigantine, die keinem geringeren als dem berüchtigten Piraten New Low gehörte, mit einer 42 Mann starken Mannschaft, 2 Kanonen und 4 Drehbassen. Ihr mögt euch leicht denken können, wie ich schaute und mich fühlte, als ich mich, zu spät um es noch ändern zu können, in den Händen solch einer wahnsinnigen, tollen, boshaften Crew wiederfand.
Erzähler
Man kann davon ausgehen, dass manche Piraten die Macht, die sie über ihre Opfer hatten, genüsslich ausnutzten. Doch der Ökonom Peter Leeson glaubt, dass dies eher die Ausnahme war. Für ihn hat die berüchtigte Grausamkeit vieler Piraten vor allem ökonomische Gründe hatte, und kam oft dann zum Einsatz, wenn eine Besatzung sich nicht kampflos ergeben hatte: Ein Brief eines britischen Gouverneurs aus dem Jahr 1721 berichtet von so einem Fall in Bermuda:
Zitator
„Hartnäckig hielt das Schiff seine Verteidigung für vier Stunden aufrecht und tötete viele der Piraten, wurde dann aber doch überwältigt und musste sich ergeben. Männer, die die Piraten an Bord noch lebend antrafen, wurden mit verschiedenen grausamen Methoden hingerichtet.“
Erzähler
Leeson argumentiert, dass die Piraten in solchen Fällen eine eindeutige Botschaft senden wollten: Leistete man gegen die Männer, die unter der schwarzen Flagge, der sogenannte „Jolly Roger“ segelten, Widerstand, so hatte man keine Gnade zu erwarten. Ergab man sich aber kampflos, konnte man unversehrt davonkommen – sogar, wenn man in die Fänge des berüchtigten Blackbeard geraten war, wie die Geschichte des Kapitains der Concorde zeigt. Und so, vermutet Leeson, befeuerten Piraten auch selbst gerne die Geschichten ihrer Grausamkeit und Unberechenbarkeit – es machte ihnen das Leben leichter. Und die Strategie ging wohl auf. Ein Zeitungsartikel aus jener Zeit berichtet, dass Seeleute sich weigerten, ihre Schiffe gegen Piraten zu verteidigen.
Erzählerin
Blackbeard, so glauben auch einige Historiker, könnte dieses piratische Image-Building bis zur Perfektion getrieben haben. So schrecklich war sein martialischer Auftritt und die Legenden, die sich um ihn rankten, dass er bis zu seinem letzten Kampf als Pirat wohl niemanden töten musste.
Erzähler
Leesons These ist nicht unumstritten. Doch, eines ist klar: Trotz Momenten der Großzügigkeit und Gnade waren Piraten zumeist einfach skrupellose Verbrecher. Auch, wenn manche von Ihnen es selbst nicht ganz so sahen.
Laut Piratenchronist Charles Johnson soll Captain Sam Bellamy dem Kapitän eines gekaperten Bootes folgendes vorgehalten haben:
Zitator
Doch seid Ihr ein verschlagener Hund, genau wie alle, die sich den Gesetzen beugen, die reiche Männer für ihre eigene Sicherheit geschaffen haben. […] Sie verteufeln uns, die Schufte, wo doch der einzige Unterschied der ist, dass sie die Armen unter dem Deckmantel des Rechts ausrauben, während wir die Reichen plündern, nur unter dem Schutz unseres eigenen Mutes.”
Erzählerin
Hier kommt langsam das andere Piratenklischee ins Spiel, das vom Gentleman-Abenteurer und Rebellen, der in der Piraterie Freiheit und Gerechtigkeit sucht. Tatsächlich war einer der Spitznamen Sam Bellamy’s “Robin Hood der Meere”, seine Crew bezeichneten sich selbst als “Robin Hoods Männer”.
Erzähler
Doch dieser Vergleich hinkt. Die einzigen Bedürftigen, die von den Raubzügen des selbsternannten Robin Hood profitierten, waren er selbst und seine Männer. Denn Bellamy stammte aus ärmlichen Verhältnissen, häufte aber innerhalb nur eines Jahres ein immenses Vermögen an. Nach Schätzungen von Forbes erbeutete er Schätze im Wert von heute 120 Millionen Dollar und war damit der reichste Piraten aller Zeiten.
Erzählerin
Auch eine utopische Piratenrepublik eines Captain Mission, von der Piratenchronist Charles Johnson berichtet und in der Männer aller Nationen – schwarze ebenso wie weiße – frei und gleich zusammenlebten, gilt heute als widerlegt und frei erfunden.
Erzähler
Trotzdem sehen manche Historiker wie etwa der Amerikaner Marcus Rediker in Piraten Sozialrebellen oder sogar Proto-Sozialisten: Männer, die den Konventionen ihrer Zeit ein eigenes Ethos entgegensetzen, in dem gesellschaftlicher Stand, Nationalität oder Rasse keine Rolle mehr spielten. Denn während Matrosen eines Handelsschiffs damals oft unmenschliche Behandlung und die strenge Hierarchie an Bord ertragen mussten, herrschten an Bord eines Piratenschiffs demokratische Zustände:
Erzählerin
Piraten wählten ihren Kapitän und konnten diesen, wenn sie unzufrieden mit ihm waren, wieder abwählen: Auch über wichtige Entscheidungen wurde abgestimmt. Einige Rechte und Pflichten schrieben Schiffsbesatzungen in einem Kodex nieder, den jedes neue Mitglied unterschreiben musste. Einige dieser Piratenverfassungen sind überliefert. Die Artikel des Captain Low etwa wurden 1723 in einer Zeitung abgedruckt und regeln etwa, wie Beute aufgeteilt wird.
Zitator
Artikel I: Dem Kapitän stehen zwei volle Anteile zu; Dem Quartiermeister einer und ein halber; Dem Arzt, Maat, Kanonier und Bootsmann jeweils einer und ein Viertel.
Erzählerin
An Bord von Captain Low – dem grausamen Mann, der einem gefangenen Kapitän die Lippen abhackte – genoss man sogar eine Krankenversicherung:
Zitator
Artikel VI: Wer das Unglück haben sollte, im Kampf eine Gliedmaße zu verlieren, erhält die Summe von sechshundert Silbermünzen und darf an Bord bleiben, solange er es angemessen findet.
Erzählerin
Viele Artikel eines Piratenkodex dienten allerdings weniger der Sozialpolitik, sondern sollten vielmehr für ein Mindestmaß an Disziplin an Bord und beim Angriff auf Beute sorgen. Wer etwa beim Kampf betrunken oder feige war, durfte bestraft werden.
Erzähler
Das Bild, dass sich so zusammensetzt, ist ein vielschichtiges: Piraten waren Männer, die der strengen gesellschaftlichen Hierarchie der damaligen Zeit entflohen und ein alternatives Modell dazu lebten – doch gleichzeitig war ihr Ziel nicht soziale Revolution, sondern Bereicherung. Rebellen – ja. Doch auch skrupellose Verbrecher. Nirgendwo lässt sich diese Ambivalenz besser beobachten als bei Sklavenschiffen, die von Piraten gekapert wurden. Für einen Sklaven auf solch einem Schiff war beides möglich: Hatte er Glück, so konnte er sich der Piratencrew als gleichberechtigtes Mitglied anschließen. Hatte er Pech, sahen die Piraten ihn als Teil der Beute an und verkauften ihn im nächsten Hafen.
Und auch beim Thema Frauen war es mit der Gleichberechtigung bei Piraten nicht weit her. Denn Frauen an Bord sind grundsätzlich absolut Tabu. Es gibt wenige Ausnahmen: Über die berühmten Piratinnen Mary Read und Anne Bonny berichtet auch schon Charles Johnson in seiner “General History”.
Weniger bekannt, aber wohl die einflussreichste Seeräuberin aller Zeiten war die Piratenkönigin Ching Shih, die um 1800 das Südchinesische Meer unsicher machte.
Erzählerin
Ching Shih, eine ehemalige Prostituierte, heiratete damals einen einflussreichen Piraten und übernahm nach dessen Tod das Kommando. Ihre Flotte soll 1500 Schiffe und 80.000 Mann umfasst haben. Als die chinesische Regierung ihr schließlich eine Amnestie anbot, nahm sie an, und setzte sich mit ihrem neuen Ehemann zur Ruhe.
Erzähler
Solch ein versöhnliches Ende finden viele Piraten des goldenen Zeitalters, nicht: Sam Bellamy, der „Robin Hood der Meere“, sinkt mit seinem Schiff Whydah in einem Unwetter vor Cape Cod.
Erzählerin
William Kidd, der vom Piratenjäger selbst zum Piraten geworden war, wird in London angeklagt und gehängt. Beim ersten Mal reißt der Strick, erst der zweite Versuch tötet ihn. Kidds Leiche wird anschließend zur Abschreckung in einem Eisenkäfig über der Themse aufgehängt.
Erzähler
Und auch der berüchtigte Blackbeard findet ein gewalttätiges Ende. Der ehrgeizige Gouverneur von Virginia, Alexander Spotswood, rüstet eine Kommando-Operation ins benachbarte North Carolina aus, wo Blackbeard – mit bürgerlichem Namen Thatch – sich aufhalten soll. Die London Gazette veröffentlich 1719, was sich dann zugetragen haben soll:
Zitator
Am 22. November erspähten sie das Piratenschiff an der Küste North Carolinas und ruderten zu ihm hin. Thach selbst rief sie an und fragte, wer sie seien. Sie antworteten, dass er das an ihrer Flagge erkennen könnte. Daraufhin sagte er, dass er Schonung weder akzeptieren noch gewähren würde. Sie antworteten darauf, dass sie nichts dergleichen erwarteten noch geben würden.
Erzähler
Wie genau sich der folgende Kampf abgespielt hat, ist nicht eindeutig. Doch am Ende liegt Blackbeard tot da, von vielen Kugel und Schwertstreichen getroffen.
Zitator
Nachdem der Kampf vorbei war, befahl Lieutenant Maynard, Thatch den Kopf abzuschneiden und hing ihn unter den Bugspriet seines Schiffs. Auf diese Weise transportierte er ihn nach Virginia, wo die Piraten, die gefangen genommen worden waren, gehängt wurden.
Erzählerin
Das Goldene Zeitalter der Piraterie endet bald nach Blackbeards Tod. Anfang des 18. Jahrhunderts schlossen die Kolonialmächte untereinander Frieden und gaben bald keine Kaperbriefe mehr aus. Die Piraten, die die Karibik und die Handelsrouten der Weltmeere unsicher machten, konnten sich der wachsenden Verfolgung durch die Kolonialmächte und ihre stärker werdenden Seestreitkräfte nicht endlos entziehen.
Erzähler
Doch natürlich ist auch das Ende des goldenen Zeitalters nicht das Ende der Piraterie. Noch heute gibt es über hundert Piratenangriffe auf Schiffe weltweit. Die verwinkelten Inselnetzwerken Ostasiens oder „gescheiterten Staaten“ wie Somalia dienen den Piraten unserer Tage dabei als sichere Rückzugsorte, von denen aus sie ihre Kaperfahrten starten können.
Erzählerin
Was ist vom goldenen Zeitalter geblieben? Geschichten und Legenden natürlich – und mehr: Blackbeards ehemaliges Flaggschiff, die Queen Anne‘s Revenge, wurde 1996 vor der Küste North Carolinas gefunden. Zwei Jahre später entdeckte man den Rumpf von Sam Bellamy‘s im Sturm gesunkener Whydah vor Cape Cod. Auch die Quedagh Merchant, das Handelsschiff, dass von William Kidd überfallen wurde – ein Überfall, der ihn schließlich an den Galgen brachte – wurde mittlerweile entdeckt. Der legendäre Schatz Captain Kidds aber bleibt weiter verschollen. Wer weiß, ob die Geschichten von den sagenhaften Reichtümern, die irgendwo versunken oder vergraben liegen, nicht frei erfunden sind, oder zumindest maßlos übertrieben, wie vieles aus dieser Zeit? Die Phantasie jedenfalls beflügeln sie weiter.